Von Till Briegleb und Ersan Mondtag basierend auf Gesprächen mit Saliha Bilal, Aslı Öngören, Mefharet Sayınbatur, Arda und Meriç Temuçin, Nica Sultana Vasiliou, Şafak Yüreklik
und unter Verwendung von Motiven aus Emine Sevgi Özdamars Romanen Die Brücke vom Goldenen Horn und Seltsame Sterne starren zur Erde
Idee/Konzept/Kuration Shermin Langhoff im Rahmen des 7. Berliner Herbstsalon ЯE:IMAGINE: THE RED HOUSE
»Die Straßen und Menschen in Berlin waren für mich wie ein Film, aber ich spielte nicht mit in diesem Film. Ich sah die Menschen, aber sie sahen uns nicht. Wir waren wie die Vögel, die irgendwohin flogen und ab und zu auf die Erde herunterkamen, um dann weiterzufliegen.«
Emine Sevgi Özdamar, Die Brücke vom Goldenen Horn
Ein Haus mit vielen Geschichten, ein Ort voller Wandel: Die Stresemannstraße 30 hat eine bewegte Vergangenheit. Einst stand hier die »Plamannsche Anstalt«, in der der junge Otto von Bismarck preußischen Drill lernte. Jahrzehnte später wurde das Gebäude zum Wohnheim der Firma Telefunken für Frauen, die in den 1960er- und 70er-Jahren aus der Türkei kamen, um in Berlin ein neues Leben zu beginnen. Unter ihnen auch Emine Sevgi Özdamar, deren Erinnerungen an diese Jahre in zweien ihrer Bücher zu einem literarischen Zeugnis von Sehnsucht und Freiheit wurden. Im »Wonaym«, zwischen geteilten Küchen und schmalen Fluren, entstanden Verbindungen und Alltagsrituale. Die Frauen erkundeten zusammen die Stadt, gingen ins Theater, ins Kino, tanzten – auf der Suche nach Zugehörigkeit und Verwirklichung ihrer kleinen wie großen Träume.
Ersan Mondtags Inszenierung spürt diesen Erzählungen nach und verbindet die Historie des Hauses mit der Frage, welche Geschichten heute von wem erinnert werden – und welche nicht. Auf einer Bühne, die Vergangenheit, Gegenwart und dystopische Zukunft überblendet, begegnen sich ältere Spieler*innen und ihre jüngeren Alter Egos. In Zusammenarbeit mit dem Seyyare – Anatolian Women’s Choir unter der Leitung von Sema Moritz entsteht ein melancholisch-utopischer aber auch schmerzhafter Abend, der nicht nur das damalige Leben im Wohnheim, sondern auch Deutschlands heutige Vorstellungen von Respekt und Anerkennung befragt.
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Uraufführung 2/Oktober 2025
Im Rahmen des 7. Berliner Herbstsalon ЯE:IMAGINE: THE RED HOUSE
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
Foto: Esra Rotthoff
Bühnenfotos: Thomas Aurin
Trailer: Schnittmenge
»Welch eine Show: Für ihre letzte Spielzeit als Intendantin des Maxim Gorki Theaters hat die Kuratorin Shermin Langhoff eine riesige Ausstellung im Palais am Festungsgraben und fünf Theaterpremieren an ihrem Haus organisiert. Das postmigrantische Theater, diese Marke, die fürs Einschreiben lang marginalisierter Geschichte(n) in die offizielle Erzählung Deutschlands steht, verschwindet nicht still und leise von dieser Bühne, sondern wird mit einem Riesentusch verabschiedet. So viel ist nach dem gestrigen Auftakt klar.«
»Die von Chor untermalten Szenen ähneln denen aus anderen Gorki-Abenden wie UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN, welche die deutschtürkische Kultur feiern. Ausgelassen lachen und tanzen die Canan-, Keriman-, Saadet- und Yüksel-Doppel in diesen Özdamar-Momenten, und das wundervoll expressive Spiel der vier älteren Schauspielerinnen […] kann sich frei entfalten.«
»Es ist, kurzum, ein Abend mit viel Inspiration, viel Stoff und jeder Menge Spuren – von denen man jeder einzelnen liebend gern weiter in die Tiefe gefolgt wäre.«
»Der Herbstsalon, wie das Eröffnungsfestival heißt […] muss nicht kleckern. Das dickste Ding ist aber der Theaterabend. [Er] macht vieles anders und vollführt einen ästhetischen Spagat. Es sieht aus, als sei Ersan Mondtag, der ›dark lord‹ des jüngeren Theaters, der in den Kunstbetrieb schielt, in ein empowerndes Musical geraten. Das allein ist schon den Besuch wert.
[…] Mondtags geisterhafter, neogotischer Inszenierungsstil pausiert aber nicht nur in den erzählerischen Passagen […] In spektakulär ausladenden Kostümen vom Josa Marx tritt wiederholt [der] Frauenchor […] Seyyare – Anatolian Women's Choir [auf]. Mit der Unterstützung von vier Live-Musikerinnen singt er türkische Songs für die Heimweh-Diaspora der Arbeitsmigrantinnen. Sieht super aus, klingt top, auch die Tontechnik leistet da ganze Arbeit.«
»Was sich stattdessen auf der Bühne abspielt, ist eine Genre-sprengende Show zwischen Operette, Komödie und Sozialsatire, die sich von der geisterhaft-mystischen Ästhetik zu Beginn des Abends zunehmend entfernt. […] Es wäre allerdings nicht Ersan Mondtag, würde das beinahe kitschig rauschende Fest deutschtürkischer Kultur nicht vom bedrohlichen Flackern der deutschen Migrationspolitik auf den Bildschirmen zurück in die Realität geholt.«
»Mehrere Male unterbrechen [zauberhafte schwarz-weiß Videos], wie Traumbilder inszenierte Familiengeschichten, das Geschehen auf der Bühne und offenbaren die Vielfalt der kulturellen Identitäten all jener jungen Frauen, die sich in den 1960er Jahren in den Werkhallen von Berliner Betrieben wiederfanden.
[…] Die Lebensleistung von Migrantinnen, so erzählen uns Mondtag an diesem Abend und Shermin Langhoff am Gorki seit 13 Jahren, ist eben nie nur eine Arbeitsleistung im volkswirtschaftlichen Sinne, sondern immer auch Kulturleistung – ein gesellschaftlicher Beitrag, den rechtes Re-Migrationsgerede leugnen will.«