Can Dündar

MERKELS SCHÜTZENDE HAND
Porträt Can Dündar
Foto: Esra Rotthoff

Can Dündar ist einer der bekanntesten kritischen Journalisten der Türkei. Er kam ins Gefängnis. Jetzt lebt er in Berlin im Exil. Er rechnet mit einem baldigen Ende der Herrschaft Erdoğans.

Als Sie – wegen angeblichen Geheimnisverrats – im Gefängnis saßen, kam eines Tages ein 80-jähriger Journalist, ein Kollege von Ihnen, mit einem Stuhl…
Mete Akyol. Er ist inzwischen leider gestorben. Er nahm den Stuhl, stellte ihn vor den Gefängniseingang, setzte sich drauf. Mehr nicht. Nach und nach kamen immer mehr, mit und ohne Stühle, die sich mit mir solidarisierten. Es war großartig.
 
Es gab auch Freund*innen, die sich von Ihnen abwandten, als Sie im Gefängnis waren?
Das Gefängnis ist auch ein großer Test. Freundschaften entstehen, Freundschaften zerbrechen.
 
Haben Sie früher manchmal ebenso reagiert?
Vielleicht. Leute waren im Gefängnis, wir unternahmen vieles, um sie frei zu bekommen, aber vielleicht war es nicht genug. Ich bekam von Manchen Briefe, die ich nicht beantwortete. Als ich dann im Gefängnis war, merkte ich, wie wichtig jeder Brief war, den ich erhielt und wie verzweifelt ich auf Antworten wartete. Das war mir früher nicht klar gewesen. Ein Freund war nach Paris ins Exil gegangen. Ich rief ihn nicht an. Ich dachte: Es wird ihm schon gut gehen in der Freiheit. Aber als er dann an Herzversagen starb, war mir klar, wie allein und unglücklich er in Paris gewesen war. Niemand da, der ihn umarmte. Mich schmerzt, dass ich ihn nicht wenigstens angerufen habe. Aber so ist das Leben. Wir lernen durch unsere Erfahrungen.
 
In der Türkei können Sie nicht leben …
Oh doch. Allerdings nur im Gefängnis. Diese Option steht mir jederzeit frei.
 
Das sagt doch etwas über den Zustand des Landes.
Die Türkei ist für Journalist*innen zu einem Gefängnis geworden. Wenn Sie die Wahrheit schreiben, müssen Sie sich auf das Schlimmste gefasst machen. Das Gefängnis ist, das muss ich auch sagen, nicht das Schlimmste.
 
Erdoğan wurde gewählt und er hat auch heute noch viele Anhänger*innen.
Er ist seit 18 Jahren an der Macht. Am Anfang tat er so, als wäre er ein Muslimdemokrat wie es in Europa Christdemokrat*innen gibt. Ich denke er verstellte sich. Außerdem war es die Macht, die ihn verdarb. Als er 2013 bei den Gezi-Park-Protesten merkte, dass seine Macht zu schwanken begann, entschied er sich für eine härtere Gangart.
 
Wie lange wird Erdoğan sich noch halten?
Zwei Jahre. Wir erleben gerade die letzten Zuckungen der Diktatur. In den Umfrageergebnissen liegt Erdoğans Partei bei nur noch 30 Prozent. Das ist ein Desaster für ihn. Er hat Istanbul, seine Festung, verloren. Die Wirtschaft liegt danieder. Er kriegt das Land nicht auf die Beine. Er ist dabei, zwei Unterstützer*innen im Westen zu verlieren: Trump und Merkel. Sie hielt in der Europäischen Union stets ihre schützende Hand über ihn.
 
Aber wie wird er gehen? Den Hut nehmen und Tschüss sagen, wohl eher nicht.
Im Juni 2023 sind die nächsten Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen. Er wird noch vor den Wahlen zum Rücktritt gezwungen werden. Von den Protesten auf der Straße, von der Opposition, von seinen Parteifreund*innen. Niemand weiß das. Die Türkei ist ein Überraschungsei.

Interview: Arno Widmann

Museum der Kleinen Dinge

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