Oliver Frljić

DU BIST ALLES UND NICHTS
Porträt Oliver Frljić
Foto: Esra Rotthoff

Der kroatische Regisseur Oliver Frljić mag es, wenn die Wirklichkeit in die Kunst einbricht. Im Theater geschieht ihm das zu selten.

Gefallen Ihnen Proben ohne Aufführungen?
Oh ja. Wir sind dann nicht der Gnade von Menschen ausgeliefert, die unsere Arbeit, über der wir Wochen und Monate zubrachten, nach zwei Stunden glauben beurteilen zu können. Im Zweifel kennen wir doch die Mängel und Qualitäten dessen, was wir da tun, besser als die meisten Kritiker*innen.
 
Was denken Sie zu Corona?
Ich habe gerade wieder den Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari gelesen. Das Buch erschien zuerst 1972. Als ich es dann später las, war ich fasziniert, aber es war alles so abstrakt. Das verstärkte natürlich meine Faszination. Aber jetzt ist ein Begriff wie zum Beispiel »Exterritorialität« ganz real. Das Gespräch, das wir gerade führen, ist exterritorial. Es findet via Zoom irgendwo zwischen uns statt. Nun, Deleuze und Guattari haben natürlich auch schon telefoniert. Aber jetzt in der Pandemie werden millionenfach Büros geschlossen, die Angestellten kommunizieren nur noch über die Bildschirme. Unser Leben wird exterritorialisiert. Lesen Sie den Anti-Ödipus. Nach 50 Jahren beschreiben die abstraktesten Begriffe der beiden französischen Philosophen unsere Wirklichkeit.

Für ein Stück in Hamburg arbeiten Sie gerade mit Rodins Höllentor. Was ist der Unterschied zwischen der Hölle und dem »Ausnahmezustand«, mit dem Sie sich hier am Gorki in Alles unter Kontrolle beschäftigen?
Die Hölle gibt es nicht. Den Ausnahmezustand dagegen immer öfter und immer mehr. Aber nehmen wir einmal an, es gäbe eine Hölle, so müsste man feststellen, dass Hölle und Ausnahmezustand beide Ihnen Ihre Rechte nehmen, zugunsten eines vorgeblich höheren Gutes.
 
Gehört es nicht zu Ihrer Kunst, Existierendes mit Nicht-Existierendem zu vergleichen?
Aber selbstverständlich. Platon, der davon überzeugt war, dass Ideen wie Dinge real existierten, wollte aber die Dichter*innen mit dem Argument, sie lenkten die Bürger*innen mit erfundenen Geschichten von der Wirklichkeit ab, aus der Polis vertreiben. Und die Theaterleute gleich mit! Derrida wies dagegen darauf hin, dass die Metapher das Herzstück der Philosophie sei. Ich mag die Unbeherrschbarkeit der Sprache, die immer über das hinausgeht, was wir mit ihr sagen wollen. Sprache, die alles unter Kontrolle zu haben scheint, entwischt der Kontrolle, gerade auch der*s Sprecher*in.
 
Welche Bedeutung hat für Sie der Text?
Der Logozentrismus unserer Kultur ist für mich ein großes Problem. Texte spielen immer noch eine dominierende Rolle. Besonders im Theater. Dabei wissen wir doch, dass wir visuell alles schneller erfassen. Wörter nehmen wir nach und nach auf, wir müssen sie entschlüsseln, das Gemeinte, die Idee dahinter, begreifen. Das ist ein langer Prozess. Warum insistieren wir im Theater noch immer so sehr auf dem Text? Es ist wie früher, als die Philosophie die Magd der Theologie sein sollte. So soll heute vielerorts das Theater dem Text dienen. Es sollte umgekehrt sein. Das Theater sollte endlich aufhören, der Diener des Textes zu sein. Das ist der Fluch des sogenannten Sprechtheaters. Wenn es einen Text gibt, bedarf es keines Theaters. Da liefert unser eigener Kopf doch immer die besten Vorstellungen.

Wie ist der Philosoph Frljić ins Theater geraten?
Ich bin kein Philosoph. Vielleicht hätte es zum Philosophieprofessor gelangt, schließlich habe ich Philosophie studiert und könnte vielleicht vermitteln, was klügere Menschen als ich herausgefunden haben. Theater kann aber, so sehe ich es, ein sehr nützliches analytisches Werkzeug sein. Wir könnten helfen, neue Begriffe zu entwickeln, die uns die Welt, die Gesellschaft, uns selbst besser verständlich machen.
 
Wie kamen Sie zum Theater?
Zuerst gar nicht. Ich ging über die Performance. Keine Aufzeichnung, keine Wiederholung, keine Proben – das imponierte mir und natürlich die riesige Bedeutung des Körpers. Die Annahme, er könne den politischen Diskursen entgehen, war natürlich naiv. Aber doch sehr beflügelnd. Noch immer misstraue ich dem Theater und den Fiktionen, die es produziert. Kennen Sie die Geschichte von Jorge Luis Borges, in der Shakespeare darüber verzweifelt, wer er denn sei, wenn alle, die er erfunden habe, nichts als Fiktionen seien? Am Ende hört er im Wind die Stimme Gottes: »Auch ich bin nicht der, der ich bin. Ich habe die Welt nicht anders erträumt als du deine Stücke, lieber Shakespeare. Du bist einer der Umrisse meiner Träume. Du bist, wie ich: alles und nichts.«
 
Auch Borges war ein Philosoph.
Und ein großer Dichter. Wir müssen aufhören, alles in Schubladen zu stecken. Ich mag, wenn die Wirklichkeit einbricht in die Kunst. Im Theater geschieht das zu selten. Darum wohl fing ich erst mit 25 an, Theaterwissenschaften und Regie zu studieren. In Zagreb, dem vielleicht schlechtesten Ort dafür in Europa. Das half mir, genauer zu begreifen, was ich nicht wollte: Charaktere zum Beispiel. Der*die Schauspieler*in ist nicht Hamlet. Hamlet gibt es nicht. Es gibt eine Reihe von Bewegungen und Sätzen. Die sind nicht Ausdruck von Hamlets Persönlichkeit und Charakter. Sondern sie erzeugen die Fiktion Hamlet. Die Performance kommt ohne Charaktere aus. Das ist das Wahre an ihr. Die ganze Idee des psychologischen Realismus behauptet aber nun doch, unter der Oberfläche gebe es den Kern, den Charakter. Das Theater ist meist noch sehr altmodisch. Dort glaubt man noch, inmitten all der funkelnden Oberflächen, die uns umgeben, an eine ontologische Tiefe unter der Oberfläche, die es auszugraben gelte.
 
Sie stellen die Charaktere auf der Bühne in Frage, weil Sie nicht daran glauben, dass es sie draußen im Leben gibt?
Wir neigen dazu, statt einzelne Handlungen in bestimmten Situationen zu analysieren, von Charakteren zu sprechen: den Ausländer*innen, den Verbrecher*innen usw. Wer »alles unter Kontrolle« haben will, der kann sich nicht mit allem Einzelnen abgeben, der braucht allgemeine Kategorien. Die soziale Kontrolle wird so weit ausgedehnt, dass wir nicht mehr so recht an die Existenz einer Privatsphäre glauben können. Das Theater stellt ja nicht nur die Wirklichkeit dar. Es ist ja auch Wirklichkeit. Manchmal ist es ein Mikrokosmos, in dem wir leichter lesen können, was auf der großen Bühne des Lebens passiert. Ich bin Regisseur. Ich habe gelernt, wie man alles unter Kontrolle bringt. Das weiß ich. Gerade darum ändere ich meine Rolle. Ich diktiere nicht den Schauspieler*innen, was sie zu tun haben. Wir erarbeiten das Stück zusammen. Das ist keine ästhetische Marotte, sondern gehört zu jenem gesellschaftspolitischen Transformationsprozess, den wir auch am Theater praktizieren.

In Ihrer Theaterarbeit sind Sie unentwegt mit der Suche nach Alternativen beschäftigt. Was fällt Ihnen zum Kommunismus ein?
Irgendjemand hat einmal gesagt, Kommunismus sei eine großartige Sache. Aber leider nichts für Homo sapiens. Aber wir müssen noch nicht einmal vom Kommunismus reden. Schon die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, nach der Abschaffung der Ungleichheit der Geschlechter, der ethnischen Gruppen, scheint uns Menschen zu überfordern. Wir können nicht leben ohne gegen die Ungerechtigkeit anzugehen, aber wir wissen auch, dass es niemals glücken wird, ihr den Garaus zu machen. In meiner Arbeit setze ich mich für die Unterdrückten und die Beleidigten ein. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Vielleicht gehörte ich einmal dazu. Aber es ist Jahrzehnte her, dass ich Hunger erfahren habe. Meine Arbeit hat etwas Paternalistisches. Dagegen gehe ich an, aber ich werde es nicht los werden.

Die Theater, an denen Sie spielen …
Auch die! Es sind die großen, internationalen Bühnen. Ich performe nicht mehr auf der Straße. Ich inszeniere nicht in alternativen Einrichtungen. Ich bin der Clown der herrschenden Klasse. Ich soll lustig sein. Wenn ich es nicht bin, kann man sich immer noch entscheiden, mich lustig zu finden. Mich, mein Theater, meine Ansichten. Aber, was rede ich. Sie kennen das in Deutschland nur zu gut. So ging es Brecht. Ich will mich natürlich nicht mit ihm vergleichen, aber selbst ihm ging es doch auch so. Oder denken Sie an Christoph Schlingensief. Je radikaler seine Kritik wurde, desto mehr wurden seine Aktionen Teil der Gesellschaft des Spektakels. Er bekam hochrangige, hochpreisige Aufträge. Ausländer raus! Schlingensiefs Container fand im Rahmen der Wiener Festwochen statt.

Vor 20 Jahren.
Das meine ich. Die Menschheit lernt nichts dazu. Das System schon. Es nimmt die Revolte auf und macht eine Ware aus ihr. Manchmal denke ich, diese Dialektik des Kapitalismus wird immer einen Weg finden, sich meinen Widerstand anzueignen. Aus allem wird Geld gemacht. Sie wollen den grünen Deal? Kriegen Sie, sobald wir ein Geschäft daraus gemacht haben. Genozid? Wir machen Geld daraus. Menschenrechte? Wir machen Geld daraus.

Interview: Arno Widmann

Alles unter Kontrolle

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