CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #38

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Zeichnung: Serkan Altuniğne


Zeichnung: Serkan Altuniğne

– Alter, kannst du mir 43,95 Euro leihen? Ich zahle es dir nächsten Dienstag um 16:17 Uhr zurück, versprochen …
– Spinnst du jetzt? Was ist das für ein bescheuerter Betrag? Ich leihe dir 50,00 Euro und du zahlst es nächste Woche einfach zurück … Gibt auch noch die Uhrzeit an, Idiot …
– Ich versuche Deutscher zu werden. Ich habe alle Dokumente und Voraussetzungen erfüllt, ich muss nur noch kleinlich werden ... Ach komm, mach’s mir nicht so schwer!



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DOPPELTE STAATSBÜRGERSCHAFT … GEHEIMTREFFEN IN POTSDAM … 43,90 EURO … FUSSBALL IN MADAGASKAR …
 

An jenem Morgen hatte ich einen Termin beim Bürgeramt. Im Frühjahr tritt das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Elf Millionen Menschen warten darauf, dass die Einbürgerung in Deutschland erleichtert wird. Mit dem neuen Gesetz wird eine doppelte Staatsbürgerschaft möglich sein. Bereits nach fünf, statt bisher acht Jahren Aufenthalt in Deutschland kann man dann die Einbürgerung beantragen. Manche werden selbst nach drei Jahren von diesem Recht Gebrauch machen können. Die müssen allerdings ganz besonders gut integriert sein.

Ich bin jetzt seit sieben Jahren in Deutschland. Ob ich wohl besonders gut integriert bin? Als ich zum Bürgeramt gehe, um alle nötigen Dokumente abzugeben, geht mir diese Frage durch den Kopf. Die deutsche Geschichte und Literatur kenne ich gut, aber die Artikel verwechsle ich immer noch. Ich schreibe für das Gorki und Die Zeit, aber Currywurst mag ich immer noch nicht. Ich kenne den Gleichheitssatz im Grundgesetz, aber ich kann Menschen, die so tun, als würden sie ihn nicht kennen, noch immer nicht tolerieren.

Ich habe die angeforderten Dokumente in der Nacht noch einmal kontrolliert. Alles vollständig. Der Sachbearbeiter wird mich fragen und ich werde eines nach dem anderen auf den Tisch legen. Der Warteraum ist voller Menschen verschiedener Hautfarben, Sprachen und Länder; Die Syrer*innen sind vor dem Krieg geflüchtet, die Iraner*innen vor Repressionen, die Afghan*innen vor der Scharia. Es ist, als stünden sie Schlange, vor einer »Tür der Hoffnung«.

Mein Termin passt zur deutschen Wahrnehmung von Zeit: 11:36 Uhr … Pünktlichkeit ist eines der wichtigsten Kriterien der Integration. Deshalb bin ich schon um 11:15 Uhr da. Allerdings ist der zuständige Fachbereich nicht so pünktlich wie ich. Meine Nummer erscheint um 11:50 Uhr. Ich gehe in den Raum und lege die angeforderten Dokumente, so wie ich es zuvor geprobt habe, nacheinander stolz auf den Tisch. Sie sind vollständig. Ich fühle mich wie ein Schüler, der nur Einsen im Fach Integration bekommen hat. Dann kommt es zur Zahlung. Die Gebühr: 43,90 Euro. 43,90 Euro für den Termin um 11:36 Uhr. Der Tanz der deutschen Zahlen. Aber kein Problem für mich. Ich zücke meine Kreditkarte, doch der Sachbearbeiter sagt:

– Das Kartengerät funktioniert nicht, Sie müssen bar bezahlen.
– OK.
Ich hole 50 Euro aus meinem Geldbeutel. Dem Sachbearbeiter gefällt das aber auch nicht.
– Ich kann nicht wechseln, Sie müssen passend bezahlen.

Ich krame 45 Euro zusammen, aber ernte erneut Widerspruch. Ich traue mich nicht zu sagen, »behalten Sie den Rest«. All mein Integrationsstreben könnte an der Differenz von 1,10 Euro scheitern.

Ein Freund hat mich zum Termin begleitet. Er ist schon längst integriert und eingebürgert, aber auch er bekommt die 43,90 Euro nicht passend zusammen.

Wir sehen zuerst auf das Kleingeld in unseren Händen, dann einander und zuletzt den Sachbearbeiter ratlos an.

– Was sollen wir tun?

Der Sachbearbeiter zeigt auf die Uhr. Die Mittagspause fängt gleich an. Wir sollen um 14:00 Uhr mit dem passenden Geld zurückkommen.

Wegen einer Differenz von 1,10 Euro haben wir zwei Stunden verloren. Und dann auch noch der Anschein, nicht integriert zu sein. Als ich das Amt verlasse, um mich bis 14:00 Uhr zu beschäftigen, frage ich, ob dem Sachbearbeiter meine Hautfarbe nicht gefallen hat, oder war es mein nicht akzentfreies Deutsch.

Nein, sagt mein Freund, in Deutschland hat man es gerne passend.

*** 

Ich habe noch zwei Stunden. Ich beschließe, ins Büro zu fahren und ein bisschen zu arbeiten.

Ich nehme ein Taxi. Der Fahrer ist türkischer Herkunft, aber deutscher Staatsbürger. Er ärgert sich über die Fahrradwege. Dann zeigt er auf den Konvoi von Traktoren, die laut hupend auf der rechten Spur fahren. Er beschwert sich, dass alles teurer wird. Bei der letzten Wahl hat er die Sozialdemokraten gewählt. Er denkt darüber nach, bei der nächsten die AfD zu wählen. Ich frage ihn irritiert, warum? Er lamentiert, es seien zu viele Fremde im Land, und vergisst dabei, dass manch andere in ihm den »Fremden« sehen. So funktioniert das System. Wer früher kommt, sieht den Späterkommenden als Feind. Anstatt zu diskutieren, denke ich darüber nach, ob ich mit dem Wechselgeld vom Taxi die 43,90 EUR zusammen bekomme. Leider immer noch nicht passend …

Ich bin bei CORRECTIV. Einer der besten Redaktionen für Investigativjournalismus in Deutschland. An diesem Tag herrscht außergewöhnliche Aktivität. Denn das CORRECTIV-Team infiltrierte das geheime Treffen, an dem unter anderem AfD-Politiker*innen mit teilweise wohlhabenden Neonazis in Potsdam teilnahmen, zeichnete die Gespräche auf und veröffentlicht gerade das Ergebnis der Recherche. Das Büro ist voll von Fernsehteams. Ich schaue mir die Nachrichten an: Das Hotel, in dem das Treffen stattfand, kommt mir bekannt vor. Als ich die Villa besuchte, in dem die Nazis die Wannsee-Konferenz abhielten, wo sie die systematische Vernichtung der Juden koordinierten, kam ich hier vorbei. Ob sie diesen Ort absichtlich gewählt haben?

In Deutschland leben über 20 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte. Aus den Nachrichten erfahren wir, dass die Teilnehmer*innen des Treffens über »die Abschiebung von Asylbewerber*innen, Ausländer*innen mit Niederlassungsrecht und ›nicht assimilierten Staatsbürger*innen‹« diskutierten. Den Gesprächen nach zu urteilen, sind Letztere das größte »Problem«. Menschen sollten aus Deutschland ausgewiesen werden, wenn sie die »falsche« Hautfarbe oder Herkunft hätten oder wenn sie nicht »ausreichend assimiliert« seien. Weiter heißt es: »Auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind ...«

Als ich diesen Satz lese, bin ich gerade damit beschäftigt, die 43,90 Euro für den Einbürgerungsantrag zusammenzukratzen, ohne an meine Hautfarbe zu denken:

– Hat jemand 40 Cent?

Ich werde mit verständnislosen, ja mitleidigen Blicken bedacht. Ob ich mir umsonst Mühe gebe? Weder die Voraussetzung für die Herkunft passt, noch die Hautfarbe. Um mich zu assimilieren, bin ich schon zu alt, außerdem widerstrebt es meiner Überzeugung. Es heißt, in manchen Bundesländern soll für die Einbürgerung auch das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels bindend werden. Ein Bürger eines Landes muss also, wenn er die Staatsbürgerschaft eines zweiten Landes beantragt, das Existenzrecht eines dritten Landes anerkennen … Die AfD schlägt vor, »hohen Anpassungsdruck« auf jene zu üben, die sich nicht daran halten. Und wenn das nicht klappt? In Nordafrika könne man einen Musterstaat gründen, wo bis zu zwei Millionen Menschen leben könnten, einen Ort, wo man Leute »hinbewegen« könne. Dort gebe es die Möglichkeit für Ausbildung und Sport.

Mir kommen die Tränen, wenn ich darüber nachdenke, dass sie sogar an unsere sportlichen Aktivitäten denken, wenn sie ihren »Masterplan« machen. Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Taxifahrer, der bei den nächsten Wahlen die AfD wählen könnte, in Madagaskar Fußball spiele. Währenddessen suche ich weiter nach Kleingeld für die Einbürgerung.

***

Schließlich habe ich das passende Kleingeld. Während ich zum Bürgeramt zurückfahre, sehe ich mir auf dem kleinen Display meines Handys die Veranstaltung der faschistischen Schwarzhemden in Italien an. Riesige Traktoren exerzieren immer noch brummend am Straßenrand.

Um genau 14:00 Uhr übergebe ich dem Sachbearbeiter stolz die 43,90 Euro. Ich bin jetzt bereit für die Staatsbürgerschaft. Ob Deutschland es auch ist?