CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #31

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Albumcover Metin Türköz

Metin Türköz, Almanya'da Neler Var (Albumcover)

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Ach, Deutschland!

Der »Âşık« (Liedermacher) Metin Türköz starb vorletzten Monat in Köln. Er wurde 85 Jahre alt. Als er 1962 nach Deutschland kam, war er erst 25. Türköz gehörte zur ersten Generation der Arbeitsmigrant*innen, die vom Istanbuler Sirkeci-Bahnhof nach München kamen. Mit 1.500 anderen Arbeiter*innen saß er im Zug. Völlig erschöpft kamen sie in München an und es wurde ihnen am Hauptbahnhof ein Abendbrot gereicht. Als jedoch einer unter ihnen rief: »Esst das nicht, da könnte Schweinefleisch drin sein!«, hörten alle auf zu essen.

Die Fahrt ging weiter nach Köln, wo sie hungrig ankamen. Zur Begrüßung spielte eine Kapelle und sie wurden auf Mehrbettzimmer verteilt. Nachdem sie am Morgen splitternackt untersucht worden waren, ging es direkt zur Arbeit in die Ford-Werke. Danach arbeiteten sie unermüdlich. Bis zur Erschöpfung ...

Bis hierher ist es die allseits bekannte und vielfach erzählte Geschichte. 

Für Türköz änderte sich bald der Lauf der Dinge:
Im Oktober jenes Jahres las er kurz vor dem türkischen »Tag der Republik« (29. Oktober, Anm. d. Übers.) eine Bekanntmachung. Wer die Saz spielen und singen konnte, wurde zu den Feierlichkeiten eingeladen. So packte Türköz seine Saz ein und ging hin. Der Saal war voll mit 1.500 müden Männern. Als er auf der Bühne stand, sagte er: »Freunde, ich erzähle euch, wie wir hierherkamen und wie wir die letzten drei bis vier Monate hier verbracht haben.« Dann begann er zu improvisieren:

Aus der Türkei vernahm ich den Ruf Deutschlands
Man sagte, es gebe da viel Rindfleisch
Jede Woche bringen sie neue Arbeiter
Seht, wie das Leben dann läuft, liebe Landsmänner
Deutschland, Deutschland

Arbeiter wie Türken findest du woanders nicht
Deutschland, Deutschland
So Gehorsame findest du woanders nicht

Der ganze Saal tobte. Denn es war ihre Geschichte, die da erzählt wurde. Das Publikum rief ihm zu: »Sing weiter, Âşık«. Das tat er auch:

In Sirkeci gaben sie mir einen Vertrag
In Deutschland wirst du arbeiten hieß es
Mit einem Päckchen und einem Ticket schickten sie mich los

Das erste Abendessen gab es in Belgrad
Deutschland, Deutschland 
So blonde Mädchen findest du woanders nicht
Deutschland, Deutschland
Das Erhoffte findest du hier nicht

Es ist sechs Uhr, wir sind jetzt in Köln, sagte man
Zu sechst steckten sie uns in Zellen
Statt Federbett gab es eine Strohmatte
Bad und Klo gibt es in der Fabrik, sagte man
Deutschland, Deutschland
Veräppeln kannst du uns nicht
Deutschland, Deutschland
Diese Pille schlucke ich nicht

Applaus, Jubel ... Der Auftritt von Âşık Metin dauerte 45 Minuten. Am nächsten Morgen sprachen alle nur von ihm. Kurze Zeit später klopfte auch schon eine Plattenfirma an seiner Tür. Sie sagten: »Du hast ein ›Deutschland-Epos‹ gesungen. Lass uns das aufnehmen.« Er sagte zu, ging ins Studio und sang auch die Fortsetzung des Epos:

Vor drei Monaten habe ich die Kinder geholt
Im Konsulat habe ich den Verstand verloren
Tief musste ich in die Tasche greifen
Die Mittelsmänner habe ich fertiggemacht
Deutschland, Deutschland
Eine Wohnung findest du hier nicht
Deutschland, Deutschland
Dein Geld zählt hier nicht

Arbeite, arbeite wie ein Packesel
Aber es sind doch Menschen
Irgendwann wird es jeder hören
Landsmänner, wann endet dieses Leid?
Deutschland, Deutschland
Einen Schwiegersohn wie einen Türken findest du nicht
Deutschland, Deutschland, 
Jetzt bin ich hier, zurückkehren kann ich nicht.

 

***
 

So entstand die Legende von »Âşık Metin aus Kayseri«.

In der kurdischen Kultur gibt es die Tradition der »Dengbej«. Sie reisen von Dorf zu Dorf und singen Epen. Und von den Orten, die sie bereisen, bringen sie die neuesten Nachrichten. »Deng-bej« kann also sowohl »mit der Stimme erzählen« bedeuten, als auch »Nachrichten überbringen«. Türköz hat diese jahrhundertealte Tradition nach Deutschland gebracht. Jedes Leid, das ihm widerfuhr, hat er besungen, und sein Gesang verbreitete sich über Kassetten in Fabriken, Städten, Wohnungen: 

Genehmigt dir der Meister keine Überstunden?
Bekommst du kein Kindergeld?
Sind Straßenbahnfahrkarten teurer geworden?
Schreibt der Arzt dich nicht krank?
Wirst du aus dem Heim rausgeschmissen?
Wird deine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert?
Schuld daran ist der Dolmetscher
Schuld daran ist der Dolmetscher

Mit den durch Leid gefilterten Worten und einem Mischmasch aus Türkisch und Deutsch hat eine isolierte Kultur ihre Stimme gefunden.

Türköz’ erste Kassette, die er als Amateur aufnahm, verkaufte sich eine Million Mal. Die »Zeitung auf zwei Beinen« trug so das »Epos der Leiden« zuerst in jede Ecke Deutschlands, dann zu den Arbeiter*innen in anderen Ländern Europas und zuletzt bis in die Türkei.

Wer im Urlaub in die Türkei fuhr, nahm die Kassetten mit und sie wurden in den Dörfern und den Kaffeehäusern gemeinsam gehört. Wer von seinen Nächsten keine Briefe bekam, am Telefon ihre Stimme nicht hören konnte, erfuhr durch Türköz’ Lieder von den Entwicklungen in Deutschland, von den harten Arbeitsbedingungen, von den Streiks, von den Männern, die »Omas« heirateten und keine Termine bekamen.

Türköz wurde in Deutschland in kurzer Zeit die Stimme der Arbeiter*innen aus der Türkei und zu einem gefragten Künstler. Er ging auf Tourneen. Mit immer neuen Liedern brachte er 82 Platten heraus.
 

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Zum Anlass des 60. Jahres des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens brachte der Musiker Nedim Hazar im letzten Jahr ein Liederbuch mit dem Titel Deutschlandlieder heraus.

Zuvor, im Jahr 2013 erschien İmran Ayatas und Bülent Kullukcus Compilation der Musik der Arbeitsmigrant*innen, Songs of Gastarbeiter.

Dieses Album wiederum war Inspiration für einen Dokumentarfilm. Cem Kaya verfilmte die Musik der Gastarbeiter*innen nach jahrelanger, akribischer Archivarbeit. Mit seinem Film Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod) erhielt er im letzten Jahr bei der Berlinale den Publikumspreis. 

Das Publikum bekommt hier nicht nur ein audiovisuelles Fest geboten, sondern begleitet auch vier Generationen auf ihrer musikalischen Reise. Jene, die nach Metin Türköz kamen, hatten die Tradition des »Âşık« weitergeführt. Und mit den politischen und soziokulturellen Bedingungen veränderten sich natürlich auch die Orte, Instrumente, Noten und Musiker*innen. Diese neuartige Musik hörte man jetzt auf Hochzeiten, aber auch in Underground-Rap-Clubs. Das Intermezzo der beiden Kulturen brachte Deutsch mit türkischen Melodien und Türkisch mit dem Rap zusammen. Es entstand ein neuer »Sound«.

Yüksel Özkasap – »Die Nachtigall von Köln«, Derdiyoklar, Muhabbet, Killa Hakan, Kâbus Kerim, Ozan Ata Canani, Cartel, İsmail YK, Derya Yıldırım, von Cem Karaca bis Neşet Ertaş, Melike Demirağ, Bülent Ersoy, Mahsunî Şerif und Şanar Yurdatapan, bis hin zu Ezhel. Viele wuchsen mit und auf dieser abenteuerlichen Reise.

Cem Kaya, der Regisseur des Films, bei dem man viel lachen und weinen kann, sagt: »So wie die Region der Schwarzmeerküste in der Türkei ihre eigenen Lieder mit regionalen Gesängen und Melodien hat, so gibt es heute auch die ›Region Deutschland‹, die ihre eigene Musik, ihre Melodie und ihre eigenen Worte hat.«

So bleibt mir nur, diese Kolumne mit einem Trauerlied aus der »Region Deutschland« zu beenden:

Deutschland, bittere Heimat
Zeigst nie dein lächelndes Gesicht
Warum, ich weiß es nicht
Manche kommen nicht zurück
Manche kehren nie zurück ... 


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Den Film AŞK, MARK VE ÖLÜM (Liebe, D-Mark und Tod) zeigen wir am 16/Februar um 19:00 im Rahmenprogramm unserer Premiere DSCHINNS im Studio Я mit einem Q&A mit dem Regisseur Cem Kaya. Um 22:00 präsentieren İmran Ayata und Bülent Kullukcu die SONGS OF GASTARBEITER.