Zehra Doğan

NOCH 15 TAGE
Porträt Zehra Doğan
Foto: Esra Rotthoff

Röportajın Türkçesi     Wergera Kurdî/Kurmancî ya gotûbêjê ya di

Die Künstlerin Zehra Doğan hat sich vom türkischen Gefängnis nicht brechen lassen. Sie wurde dort – dank der Gemeinschaft der politischen Gefangenen – noch stärker und produktiver.

600 Tage waren Sie in verschiedenen Gefängnissen in der Türkei. Als ich Ihre Briefe aus dem Gefängnis las, hatte ich den Eindruck, es war eine nicht nur schreckliche Zeit.
In der Türkei gibt es eine Tradition von Gefängnisliteratur und Gefängniskunst. Wenn Sie in ein Gefängnis kommen, kommen Sie nicht nur in eine Zelle, sondern Sie tauchen auch in einen neuen Lebensstrom ein, in dem Sie intensive Erfahrungen machen können. So ging es auch mir.
 
Sie haben im Gefängnis gemalt. 70 dieser Bilder werden in einer Ausstellung im Gorki im Februar 2021 in Berlin gezeigt werden. Sie schrieben im Gefängnis auch Tagebuch, Erzählungen und einen Roman. Dabei gab es Tage, an denen Sie mehrere Stunden in einer Schlange standen, um auf die Toilette gehen zu können.
Mit der Toilette verhält es sich so: Es waren zu wenig Toiletten, für zu viele Frauen. Wenn ich Durchfall hatte, musste ich mich immer gleich, nachdem ich auf der Toilette gewesen war wieder in die Schlange stellen. Zu meinem Fleiß im Gefängnis: Eigentlich bin ich faul. Aber die politischen Gefangenen achten sehr auf Disziplin. Von sieben Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts. Da habe ich mich dann mitreißen lassen. Das hilft auch gegen Depression. Es fiel mir nicht leicht, mich dieser Arbeitsdisziplin anzupassen. Aber die anderen Frauen drängten mich sehr. Außerdem: Es kamen jetzt auch Journalist*innen ins Gefängnis, die über mich geschrieben hatten. Da fühlte ich mich verantwortlich. Ich wollte alles dokumentieren. Darum hatten wir die Idee einer Zeitschrift, die die Rechtsbrüche der Gefängnisbehörden anprangern sollte.
 
Nachts schrieben Sie im Mondlicht Ihre Briefe an Ihre Freundin Naz Öke?
Tagsüber hatte ich so viel zu tun, dass mir nur die Nacht blieb für meine privaten Briefe. Das waren sehr viele, weil ich Naz gebeten hatte, mir täglich Briefe zu schicken. Die Rückseiten sollte sie frei lassen, so dass wir Papier zum Schreiben hätten. Auf so einer Briefrückseite ist auch mein erster Cartoon entstanden.
 
Sie sind politische Aktivistin, Sie malen und schreiben. Im Gefängnis gab es die Disziplin der politischen Gefangenen, die Sie zur Arbeit antrieb, was machen Sie jetzt?
Ich bin nicht in meine alte Faulheit zurückgefallen. Es gibt jetzt sehr viel zu tun. Jede Menge Projekte, Konferenzen, Aufträge. Frauenzeitschriften bitten mich darum, ihre Covers zu entwerfen. Wenn ich im Gefängnis nicht gelernt hätte, mich zu disziplinieren, könnte ich das alles nicht tun, was ich jetzt tue. Ich bin jetzt ganz anders motiviert, als ich es vor dem Gefängnisaufenthalt war.
 
Wann haben Sie Ihre Freundin Naz Öke kennen gelernt?
Als ich 2015 in Nusaybin war.

Das ist die kurdische Stadt, die wenig später von türkischem Militär dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Ja, und sie feierten diesen Sieg, indem sie das Foto dieser Vernichtung auf die ersten Seiten der großen türkischen Zeitungen setzten. Ich habe dieses Foto benutzt und 2016 ein Gemälde von dieser Aktion gemacht. Dafür kam ich dann ins Gefängnis. 2015 war ich für eine Reportage nach Nusaybin gekommen. Naz war damals in Frankreich und hatte gehört, dass eine zeichnende Journalistin in der Stadt war und rief mich an. So lernten wir uns das erste Mal kennen. Wir haben dann angefangen zusammenzuarbeiten. Richtig lernten wir uns aber erst durch den Gefängnisbriefwechsel kennen.
 
In Ihren Briefen schreiben Sie von Tauben, die bei den Gefangenen blieben und ihre Nester in den Stacheldraht bauten. Sie hatten den Eindruck, schreiben Sie, die Tauben wollten Ihnen etwas mitteilen. Was war das für eine Botschaft?
Wir diskutierten damals stundenlang darüber. Zuerst dachten wir: Der Stacheldraht schützt sie und ihre Kinder vor den Katzen. Aber dann sahen wir: Es gab Tauben, die an dem Stacheldraht hängen blieben und sich schwer verletzten. Manche starben. Die ganze Welt stand ihnen offen. Warum kamen sie hierher? Es kam mir vor wie das Schicksal der Kurd*innen. Ihnen stand auch die Welt offen und jetzt leben wir in Lebensgefahr wie diese Tauben. Darum hatten wir wohl so viel Sympathie für sie.
 
Der Titel des Buches ist Schöne Tage werden wir erleben …
Im Gefängnis lernte ich eine 28-jährige Frau, Mutter zweier Kinder, kennen, die zu drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden war, weil sie bei einem Fest ein Guerrilla-Kostüm getragen hatte. Ihr Vater war zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden, da war sie noch keine zehn Jahre alt. Bald darauf schloss sich ihre Mutter dem bewaffneten Kampf an. Seitdem hatte sie nie wieder etwas von ihr gehört. Mit zehn war sie verantwortlich geworden für ihre fünf Geschwister. Sie erwartete sich nichts mehr vom Leben. Aber diese Verse des großen türkischen Dichters Nazim Hikmet gingen ihr nicht aus dem Kopf. Das hat mich sehr beeindruckt.
 
Was machen Ihre Eltern?
Über meine Eltern gibt es nicht viel zu erzählen. Sie sind um die 70. Ich bin das achte von neun Kindern. Unsere Beziehung wird von einer Sache bestimmt. Sie haben ihr Leben lang auf mich gewartet. Als ich trotz der Ausgangssperre auf die Straße ging, blieben sie jede Nacht auf und warteten, ob ich heil zurückkommen würde. Als ich längere Zeit in Nusaybin war, warteten meine Eltern voller Angst. Als ich im Gefängnis war, warteten sie wieder. Dort war ich immer wieder sehr unglücklich und dachte: besser tot als hier. Sie aber, als sie mich das erste Mal im Gefängnis besuchten, waren sehr glücklich. Ich verstand das erst nicht. Aber sie hatten gedacht, ich sei tot. Darum waren sie glücklich, mich am Leben zu sehen. 

Durften auch Freund*innen kommen?
Nur die Familie und nur fünf Personen auf einmal. Und ich hatte die Namen dreier Freundinnen angeben dürfen, die mich besuchen sollten. Aber zwei konnten nie kommen. Sie wurden von der Polizei gesucht. So hat mich in all den Jahren nur eine einzige Freundin im Gefängnis besucht.
 
Werden wir jemals schöne Tage erleben? Wird es einmal eine Welt ohne Gefängnisse geben?
Im Gefängnis braucht man diesen Glauben an die Zukunft. Dort hatte ich ihn und ich versuche, ihn mir zu bewahren. Ich bin sicher, dass unser System irgendwann einmal zerstört werden wird. Aber vielleicht wird es so lange dauern, dass ich es nicht mehr erleben werde. Blicken wir nur auf die Türkei, so glaube ich, dass es nicht so lange dauern wird, bis die Kurd*innen schönere Tage erleben werden. Aber ich werde sie nicht genießen können. Dazu sind auf dem Weg dorthin zu viele Menschen umgebracht worden …

Also wird es keine schönen Tage geben?
Objektiv gesehen vielleicht. Aber für mich wohl eher nicht.
 
Wird die Türkei ihre Haltung gegenüber den Kurd*innen ändern?
Als ich auf der Flucht vor der Polizei war und überlegte, nach Kurdistan oder nach Europa zu fliehen, sagte ein Freund zu mir: Wir verstecken Dich – das ist kein Problem. In 15 Tagen ist diese Verhaftungswelle vorbei und du kannst wieder raus. Erdoğan, das Regime ist von außen und von innen so unter Druck, sie werden nachgeben. Das war 2017, kurz vor meiner Verhaftung. Als ich wieder aus dem Gefängnis herauskam, witzelten wir und sagten einander: noch 15 Tage.

Was meinen Sie?
Ich glaube nicht, dass Erdoğans Ende auch das Ende der Unterdrückung der Kurd*innen sein wird. Als ich ein Kind war, war Tansu Çiller von 1993 bis 1996 Ministerpräsidentin der Türkei. Für die Kurd*innen waren das mit die schlimmsten Jahre. Zwei meiner Onkel wurden damals ermordet. Viele wurden umgebracht. Uns Kurd*innenkindern wurde an den Schulen Türkisch eingeprügelt. Zweimal die Woche mussten wir antreten und feierlich gemeinsam den Schüler*innen-Eid sprechen: »Mein Dasein soll der türkischen Existenz gewidmet sein. Glücklich derjenige, der sich Türke nennt!« Erdoğan ist nicht der erste und ich fürchte, er wird auch nicht der letzte sein, der die Kurd*innen zu vernichten versucht. Ich denke, Erdoğans religiöse Ansichten ruhen auf einem traditionsreichen nationalistischen Fundament. Ich glaube nicht, dass die kurdische Zukunft von Verhandlungen zwischen Parteien abhängen wird. Ich finde, es geht nicht um Regierungen und Institutionen, sondern jede*r einzelne Türk*in, sollte reif genug sein, um Verzeihung zu bitten für das, was geschehen ist. Ein Regierungswechsel wird wenig ändern. Die Mentalität, selbst die Gefühle, müssen sich ändern – auf beiden Seiten –, wenn es schöne Tage geben soll.

Europa wird jetzt womöglich noch weniger helfen als vor der Ankunft der Geflüchteten?
Die Konflikte in der Türkei haben Europa stets dabei geholfen, seine Rüstungsprodukte zu verkaufen. Jetzt nutzt Europa die »Flüchtlingsfrage« als Vorwand, um seine geopolitischen Interessen im Nahen Osten durchzusetzen.

Interview: Arno Widmann

Prison Number 5

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