

Foto: Heinz O Jurisch
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In einem Ausstellungsraum des 7. Berliner Herbstsalon ЯE:IMAGINE: THE RED HOUSE im Gorki liegt in einer gläsernen Vitrine ein handgeschriebener Brief vom 22. Juni 1966. Er beginnt mit den Worten: »Mein werter Ehemann« – eine Anrede, die man heute nicht mehr lesen würde.
»Seit meiner Abreise aus der Türkei sind heute genau sechs Tage vergangen. Drei davon haben wir im Zug verbracht. Am Montag kamen wir in München an und konnten noch am selben Tag um 14.30 Uhr die Werksunterkunft erreichen.«
Nach einer drei Tage dauernden, beschwerlichen Zugfahrt auf harten Holzsitzen müsste man annehmen, dass der Mensch sich zunächst ausruhen darf. Doch weit gefehlt.
»Am nächsten Tag begannen wir mit der Arbeit. Unser Arbeitsplatz liegt 54 Kilometer von München entfernt. Wir müssen drei verschiedene Verkehrsmittel nehmen, um dorthin zu gelangen.«
Man stelle sich vor, was es für eine junge Frau Anfang zwanzig bedeutet haben muss, am Tag nach einer solchen Reise in einem fremden Land, fern von Familie und Heimat, mit drei Umstiegen zur Arbeit zu fahren. Doch die Schreiberin klagt nicht:
»Die Arbeit ist viel, aber nicht schwer«, schreibt sie. In der Nähfabrik, in der sie arbeitet, sind rund 600 Frauen beschäftigt. Die Fabrik hat einen Vorschuss von 80 Mark gezahlt – wie viel sie verdienen wird, weiß sie noch nicht. In den letzten Zeilen sendet sie »unendliche Grüße und Liebe« – nach drei Tagen als »Gastarbeiterin in Deutschland« – an ihren Ehemann in der Türkei.
In der GORKI-Ausstellung erfahren wir noch viel mehr über die Lebenswege von rund 200 jungen Frauen, die zwischen 1964 und 1969 vor allem aus der Türkei nach Berlin kamen.
Das Frauenwohnheim des Telefunken-Werks in der Stresemannstraße 30 war für eine Zeit lang ihr Zuhause und die Erinnerungen aus diesem Haus leben nicht allein im Ausstellungsraum, sondern auch auf der Bühne des Gorki weiter.
DAS ROTE HAUS von Ersan Mondtag und Till Briegleb verbindet die Zeugnisse dieser jungen Frauen aus dem »Wonaym« mit Motiven aus Emine Sevgi Özdamars Romanen Die Brücke vom Goldenen Horn und Seltsame Sterne starren zur Erde. Das Theaterstück dokumentiert die harten Arbeitsbedingungen jener ersten Generation migrantischer Frauen, die unter körperlich zermürbenden Umständen in Fabriken arbeiteten – bis ihnen buchstäblich »die Haare auf die Maschinen fielen«.
Ihre Geschichten werfen ein Licht auf das Gestern und Heute Deutschlands: Sechzig Jahre Leben, verdichtet in zwei Theaterstunden – eine schmerzhafte Reise, die in einem Bahnhof oder einem Wohnheim beginnt und endet. Plötzlich Sirenen, Explosionen, Schreie. Die düstere Vision einer neuen »Ausländer-raus«-Kampagne und die Rückkehr der nun ergrauten, erschöpften Frauen – der ehemaligen Arbeiterinnen – auf denselben Gleisen, auf denen sie einst kamen. Ein Symbol für eine Gesellschaft, die vergisst, wer sie mit aufgebaut hat.
Ist das eine Dystopie – oder schon der Vorgeschmack auf einen kommenden Albtraum?
In Deutschland wird diese Frage derzeit heftig diskutiert und die »Gastarbeiter*innen« wie ihre Enkel*innen fragen sich, ob sie nach über sechzig Jahren immer noch Gäste sind. Die unerwünschten Fremden, ein Problem im Stadtbild …
Auslöser der jüngsten Debatte waren die Worte von Bundeskanzler Friedrich Merz.
Auf einer Pressekonferenz in Potsdam – ausgerechnet dort, wo ähnliche Themen auffällig oft zur Sprache kommen – sagte er, dass die Regierung frühere Fehler in der Migrationspolitik korrigiert und Fortschritte erzielt habe, doch selbstverständlich sehe man das »Problem« noch immer im Stadtbild. Deshalb sei der Innenminister dabei in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.
Auf die Nachfrage, was er mit dieser Formulierung meine, und ob er sie zurücknehmen wolle, antwortete Merz nicht etwa beschwichtigend – im Gegenteil:
»Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage: Ich weiß nicht, ob Sie Töchter haben. Falls ja, fragen Sie sie doch einmal, was ich damit gemeint haben könnte. Ich bin sicher, sie werden Ihnen eine klare Antwort geben.«
Wer im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, wurde vielleicht an Joseph Goebbels erinnert, der einst behauptet hatte, die Juden »verdürben« das Straßenbild. Seit der Niederlage der damaligen Nazi-Ideologie rühmte sich Deutschland stets für seine Vielfalt und Buntheit. Die Worte des Kanzlers riefen Empörung hervor, und vor dem Brandenburger Tor versammelten sich tausende Menschen unter dem Motto »Wir sind das Stadtbild.« Vor der Berliner CDU-Zentrale riefen Frauen »Wir sind die Töchter!« und Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende der Grünen, forderte Merz auf, sich zu entschuldigen, denn er habe »Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte beleidigt«. Der Co-Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, machte auf das wahre Stadtbildproblem aufmerksam:
»Wir haben im Stadtbild zwar immer mehr Armut, immer mehr Obdachlose und immer mehr geschlossene Läden. Das hat aber mehr (…) mit den sozioökonomischen Veränderungen zu tun, für die die Regierung zuständig ist.«
In den letzten Monaten wurde die Abschiebung jener, die angeblich ein Problem im Stadtbild darstellen, beschleunigt. Die größte türkeistämmige Gemeinschaft außerhalb der Türkei ist die am meisten gefährdete. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge warten Stand Ende September 22.560 türkische Staatsbürger*innen auf ihre Abschiebung; allein in diesem Jahr wurden bereits 1.614 abgeschoben. Bundeskanzler Merz brachte bei seinem letzten Türkei-Besuch höchstpersönlich einen Koffer mit und wurde dafür von der türkischen Presse gelobt. Berichten zufolge war der symbolträchtige Koffer voller Rückführungsdossiers. Welche Art von »Türken« Kanzler Merz zurückschicken will – und ob es sich dabei auch um »politische Gegner« wie mich handelt, deren Auslieferung Erdoğan fordert – wird sich bald zeigen. Doch das Entscheidende ist, dass die Diskussion über das »Problem im Stadtbild« und jenen Abschiebelisten bei vielen, auch bei denen, die bleiben werden, das gleiche schmerzhafte Gefühl von unerwünschter Zugehörigkeit auslöst.
Am Ende der Inszenierung von DAS ROTE HAUS sieht man die Frauen, die einst ihre Jugend, ihre Kraft, ihr Leben in den Aufbau der deutschen Industrie und Wirtschaft gesteckt haben, auf denselben Schienen zurückkehren, auf denen sie einst ankamen. Diese Szene bewegte viele im Publikum zu Tränen.
Um zu erkennen, dass sich unsere Städte verändern, müssen wir nicht erst unsere Töchter fragen. Um zu verstehen, warum sie sich verändern und wie wir den Wandel gestalten könnten, sollten wir auch jene fragen, die in der Stresemannstraße 30 einen Teil ihres Lebens verbracht haben.
Fragt die grauhaarigen Frauen, die einst kamen, um dieses Land mit aufzubauen – und die heute das Gefühl haben, nurmehr als »Problem im Stadtbild« gesehen zu werden.
Übersetzung aus dem Türkischen von Çiğdem Özdemir