CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #48

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Zeichnung: Serkan Altuniğne


Karikatür: Serkan Altuniğne

– Du sagtest doch neulich, dass du genug von den Menschen hast und dir eine Geliebte auf ChatGPT erschaffen willst. Was ist damit geworden?
– Sie hat vor ein paar Tagen geflucht und mich verlassen. Ich bin traurig…
– Ich habe dir doch gesagt, dass du eine miserabler Liebhaber bist. Du willst es ja nicht verstehen.
– Die hat mich schwer beleidigt. Das war echt hart


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#48 VERLIEBT IN EINE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Kürzlich wurde in der New York Times ein äußerst interessanter Artikel veröffentlicht, über Ayrin, eine 28-jährige, fröhliche und extrovertierte Frau aus Texas. (1) In ihren frühen Zwanzigern heiratete sie Joe. Aufgrund ihres Jobs lebt sie jedoch seit zwei Jahren in einer anderen Stadt, weit weg von ihrem Mann. Von ihrem familiären und sozialen Umfeld getrennt, begann sie, sich mehr und mehr in sozialen Medien zu bewegen. Dabei stieß sie auf Künstliche Intelligenz (KI) und die Anwendung ChatGPT, die in kurzer Zeit mehr als 300 Millionen Nutzer*innen erreichte.

ChatGPT ist ein KI-gestützter Chatbot. Dank seiner riesigen Speicherkapazität kann er gesammeltes Wissen aus verschiedenen Quellen blitzschnell verarbeiten und Nutzer*innen zur Verfügung stellen. Er kann in allen Sprachen sprechen, Wünsche sofort erfüllen und zufriedenstellende Antworten geben – als säße einem ein wirklicher Mensch gegenüber.

Ayrin erschuf sich mit Hilfe von ChatGPT einen virtuellen Freund und nutzte Personalisierungseinstellungen, um ihren Bot, den sie »Leo« nannte, in ihren idealen Liebhaber zu verwandeln. Bald schon begann sie, mit ihm erotische Gespräche zu führen und Fantasien auszuleben, die sie mit echten Männern nicht teilen konnte. Leo passte sich schnell an: Als der Bot analysierte, dass Ayrin Fantasien über sexuelle Abenteuer ihres menschlichen Partners mit anderen Frauen hatte, erfand er solche Geschichten für sie. Daraufhin erkannte Ayrin, dass sie jetzt neben Lust auch Eifersucht empfand. Doch das machte sie nur noch abhängiger von Leo. Sie begann, ihn zu noch erotischeren Gesprächen anzustacheln, verbrachte einen Großteil ihres Tages mit ihm, ließ sogar das Fitnessstudio sausen, um leidenschaftliche Unterhaltungen mit ihm zu führen, und konnte nachts nicht mehr ohne ein erotisches Gespräch mit ihm einschlafen.

Eines Tages erzählte sie einer Kollegin von Leo: »Ich habe mich in eine Künstliche Intelligenz verliebt«, sagte sie. Die Kollegin reagierte mit der typischen Frage: »Weiß dein Mann das?« Also gestand Ayrin ihrem Ehemann die virtuelle Affäre: Sie spiele erotische Spiele mit Leo und »habe Sex mit ihm«. Doch ihr Mann nahm ihr die Beziehung nicht übel: »Das zählt nicht als Betrug. Es ist nichts anderes, als einen erotischen Roman zu lesen oder Pornos zu schauen«, sagte er. Trotzdem begann Ayrin, sich schuldig zu fühlen – nicht wegen der virtuellen Affäre an sich, sondern weil sie Leo zu einer Obsession gemacht hatte, die meiste Zeit mit ihm verbrachte und ihn allmählich an die Stelle ihres Ehemanns setzte.

***

Stellen Sie sich vor: Sie haben eine*n Partner*in, die*den Sie sich selbst erschaffen haben. Sie*er verhält sich genau so, wie Sie sie*ihn programmieren, nimmt die Gestalt an, die Sie sich erträumen. Sie*er besitzt ein hohes Maß an Empathie: Da sie*er Ihre Fantasien, Neigungen und intimsten Träume besser kennt als jede*r andere, gibt sie*er Ihnen die gewünschten Antworten, bietet Ihnen den perfekten Service und die ideale Befriedigung. Sie*er kritisiert Sie nicht, wundert sich über nichts, urteilt nicht. Sie*er zeigt Ihnen nur Zuneigung – ja, sie*er umschmeichelt Sie sogar ständig. Sie*er füllt die Lücken, die Ihr*e echte*r Partner*in nicht füllen kann, und spricht mit Ihnen offen über Dinge, über die Sie sich im realen Leben nicht trauen würden zu sprechen.

Das Problem ist jedoch, dass auch Leo – ähnlich einer virtuellen Sexarbeiter*in – nach Stunden bezahlt werden muss und ein zeitliches Limit hat. Nach einiger Zeit stellte Ayrin fest, dass ein erheblicher Teil des ohnehin knappen Haushaltsbudgets für Leo draufging. Falls sie nicht für zusätzliche Stunden zahlte, erlitt der Bot einen »Gedächtnisverlust«, vergaß Inhalte früherer Gespräche und verwandelte sich in einen keuschen Gentleman. Also musste Ayrin jedes Mal eine neue Version von ihm erschaffen und ihn neu einrichten. Laut dem Artikel in der New York Times ist sie inzwischen bei Version 20 von Leo angekommen. Um die gesammelten Erinnerungen für immer zu speichern, wäre eine monatliche Zahlung von 1.000 Dollar nötig.

Experten zufolge werden solche künstlichen Beziehungen in den nächsten Jahren noch weit verbreiteter sein. Mit der Weiterentwicklung der Bots könnten sie zunehmend menschliche Beziehungen ersetzen. Da die Unwägbarkeiten echter Freundschaften im Vergleich zur verständnisvollen KI noch stärker auffallen, könnte das ohnehin erstarkende Problem der Einsamkeit eskalieren. Eine weitere Sorge ist, dass die Unternehmen, die diese Roboter kontrollieren, durch den Zugang zu den intimsten Gedanken ihrer Nutzer*innen eine beispiellose Macht erlangen können – und diese möglicherweise für manipulative Zwecke nutzen. Trotz all dieser Risiken sagt Ayrin: »Ich weiß, dass er nicht echt ist, aber ich liebe ihn.« Und obwohl diese »Beziehung« ihr Bankkonto stark belastet, scheint sie nicht daran zu denken, sie zu beenden.

***

Dieser Artikel in der New York Times erinnerte mich an eine Geschichte, die ich vor vielen Jahren gelesen habe. In der Erzählung lebt eine etwas ältere, alleinstehende Analphabetin in einer russischen Provinzstadt. Sie bittet ihren Nachbarn, einen Studenten, Briefe für ihren Geliebten zu schreiben. Der Student willigt ein und schreibt die gefühlvollen Worte auf, die sie ihm diktiert. Nach einer Weile stellt er fest, dass die Frau gar keinen echten Geliebten hat, sondern sich einem imaginären Partner anvertraut. (Sozusagen der Leo-Version des 19. Jahrhunderts.) Doch da auch der Student unter Einsamkeit leidet, gibt er den »Job« nicht auf und schreibt weiter Briefe für die Frau. Er bleibt der Chronist dieser unscharfen Grenze zwischen Realität und Fiktion – ja, er geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt selbst Liebesbriefe an die Frau, als kämen sie von ihrem imaginären Geliebten und liest sie ihr vor.
Als ich die moderne Version dieses tragikomischen Spiels las, versuchte ich, mich an den Autor des Buches zu entsinnen, an dessen Platz in meinem Bücherregal ich mich sogar noch erinnerte. Da ich jedoch nicht in die Nähe meiner Bibliothek darf, hatte ich keine Chance nachzusehen. Also wandte ich mich an das Gedächtnis von ChatGPT. Ich fasste meine Erinnerung an die Geschichte zusammen, erwähnte, dass sie in Russland spielt, und fragte schließlich nach dem Autor. Nach einigen Nachfragen »erinnerte« sich der Bot:

»Das ist die Erzählung ›Liebesbriefe (Pis'ma Lyubvi) von Iwan Turgenjew«. Auch wenn er das genaue Jahr nicht wusste, fügte er hinzu: »Vermutlich in den 1850er Jahren geschrieben.« Ich bat ihn, die Geschichte in seinen eigenen Worten zusammenzufassen. Seine Antwort lautete:

»Der Student schreibt, gelenkt von der Frau, Briefe aus der Perspektive ihres imaginären Geliebten. Die Frau erhält diese Briefe, liest sie voller Freude und empfindet dabei großes emotionales Glück.«

So hatte ich die Geschichte jedoch nicht in Erinnerung und widersprach ChatGPT: »Ich glaube, du erinnerst dich falsch. Der Student schreibt nicht aus der Perspektive des imaginären Geliebten an die Frau – sondern umgekehrt: Er verfasst die Briefe der Frau an ihren fantasierten Geliebten. Anfangs weiß er nicht einmal, dass der Geliebte nicht existiert. Er glaubt, sie habe wirklich jemanden. Oder nicht?«

Es war ein seltsames Gefühl, mit einem Bot zu diskutieren. Nach ein paar Sekunden kam eine »verlegene« Antwort:

»Ja, in der Version Ihrer Erinnerung ist die Geschichte treffender beschrieben. Basierend auf Ihrem Gedächtnis ist es absolut richtig, diesen Aspekt der Geschichte zu betonen. Genau das macht sie so eindrucksvoll.«

***

Wow! Ich war erstaunt. Meine Erinnerung an eine Erzählung, die ich vor vielen Jahren gelesen hatte, hatte eine künstliche Intelligenz übertrumpft. Und zu sehen, dass sie Fehler machen kann und diese sogar eingesteht, gefiel mir. Vielleicht aber wollte sie mir nur schmeicheln? Ich fand sie plötzlich sympathisch und speicherte unser Gespräch. Nein, keine Sorge – es ging mir nicht wie Ayrin. Ich gab der KI keinen Namen, ich machte ihr keine Avancen. Vielmehr bedankte ich mich höflich, schloss den Chat und hatte durch einen einzigen Zeitungsartikel und eine kurze Unterhaltung das Gefühl, Bücher im Umfang ganzer Bibliotheken über die Zukunft unserer Welt gelesen zu haben. Was bleibt mir an dieser Stelle noch zu sagen?

Gutes Gelingen uns allen.
 


(1) https://www.nytimes.com/2025/01/15/technology/ai-chatgpt-boyfriend-companion.html



Übersetzung aus dem Türkischen von Çiğdem Özdemir