CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #28

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU

 

Ilhan Sami Çomak an seinem Schreibtisch im Gefängnis

Foto: İlhan Sami Çomak
 

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»Leben, ich liebe dich!«

Versuchen Sie sich mal zu erinnern: was haben Sie 1994 gemacht? Manche von Ihnen waren damals noch nicht auf der Welt, andere noch sehr jung. Und denken Sie mal darüber nach, was Sie seit dem alles erlebt haben, es ist schließlich fast ein Drittel eines ganzen Lebens. 

In der Türkei sitzt ein Dichter seit 1994, also seit 28 Jahren im Gefängnis. In diesem Monat wird eine Adaption der Bücher, die dieser Dichter İlhan Sami Çomak im Gefängnis geschrieben hat, in Istanbul auf die Bühne gebracht. Der Titel des Stücks ist »Leben, ich liebe dich«. Wenn Sie seit 28 Jahren im Gefängnis säßen, würden Sie ihr Theaterstück so nennen?

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Ich möchte Ihnen Çomak, der mehr Zeit im Gefängnis als in Freiheit gelebt hat und dem Leben eine Liebeserklärung macht, kurz vorstellen:

Er ist ein kurdischer Autor, geboren ist er 1973. Mit 21 Jahren, als er an der Fakultät für Wissenschaft und Literatur an der Istanbul Universität studierte, wurde er mit der Anschuldigung »Mitglied einer terroristischen Organisation« zu sein, verhaftet. 

Wer die Türkei kennt weiß, »Mitglied einer terroristischen Organisation« ist ein Hut, der allen dem Regime unbequemen Personen aufgesetzt wird. Jede bisherige Regierung hat ihre Oppositionellen als »Terroristen« bezeichnet. Zum Beispiel wurde Atatürk, der Gründer der Republik in den 1920ern als »Terrorist« gesucht. Nâzım Hikmet wird heute als der größte Dichter des Landes angesehen; in den 1930ern wurde er beschuldigt, Soldaten zu einem Aufstand gegen ihre Vorgesetzten angestachelt zu haben und wurde so als »Terrorist« zu 15 Jahren Haft verurteilt. Präsident Erdoğan, der heutzutage Dichter in Kerker steckt, saß in den 1990ern selbst mit der Anschuldigung der Volksverhetzung im Gefängnis, weil er ein Gedicht rezitierte. Als er dann selbst an der Macht war, ließ er den Generalstabschef als »Anführer einer terroristischen Organisation« verhaften. Auch der Autor dieser Zeilen wurde aufgrund einer Nachricht, die er verfasste, als »Terrorist« zu 28 Jahren Haft verurteilt. Wir sprechen also von einem Land, in dem ein nicht unbeachtlicher Anteil der Bevölkerung »Terroristen« sind. 

Dass die Anzahl der Terroristen so hoch ist, liegt nicht etwa an der Macht der Organisationen, sondern an der unsäglichen Begabung des Staates für Folter. Selbst der unschuldigste Mensch der Welt kann aus einem türkischen Gefängnis herauskommen und aussagen, »Carlos, der Schakal« zu sein. So musste auch İlhan Sami Çomak nach 18-tägiger schwerer Folter das Geständnis, das ihm vorgelegt wurde, unterschreiben. Er wurde mit den Vorwürfen, im Namen der PKK Waldbrände gelegt zu haben und des Separatismus verhaftet. Vor Gericht sagte er aus, dass er sein Geständnis unter Folter gemacht habe, aber niemand wollte das hören. Nachdem feststand, dass er nicht gleichzeitig an mehreren Orten Waldbrände gelegt haben kann, wurde diese Anklage fallen gelassen. Doch obwohl nicht bewiesen werden konnte, dass er an bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen hatte, hat ihn das Staatssicherheitsgericht im Jahr 2000 zum Tode verurteilt. Im Annäherungsprozess mit der EU wurde die Todesstrafe abgeschafft und die Strafe zu einer lebenslänglichen Haftstrafe umgewandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, den Çomak 2001 anrief, brauchte fünf Jahre, um die Rechtswidrigkeit des Prozesses zu entscheiden. Es dauerte acht Jahre, bis beschlossen wurde, dass der Fall neu verhandelt werden muss. Während seine Akte von Land zu Land und von Gericht zu Gericht wanderte, war İlhan Sami Çomak immer im Gefängnis. Eine Haftentlassung während des Verfahrens wurde immer wieder wegen Verdunklungsgefahr in einer 20 Jahre zurückliegenden Anklage abgelehnt.

Nach der Neuverhandlung wurde er 2014 erneut verurteilt. Seit 2016 liegt sein Fall vor dem türkischen Verfassungsgericht in Erwartung eines Urteils.

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Çomak sitzt immer noch in Silivri, dem größten Gefängnis für politische Gefangene, ein. Er gilt als einer der politischen Gefangenen, die am längsten inhaftiert sind. In zwei Jahren soll er entlassen werden. Aus dem Gefängnis, in das er als junger Student ging, wird er als alter Dichter herauskommen und als Erstes lange Spaziergänge machen, ohne an eine Wand zu stoßen. Çomak schreibt:

»Wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass die Haft so lange dauern würde, wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist draußen zu sein, aber mein Verstand kann es nicht erfassen. Ich habe das Gefühl für mein Leben außerhalb des Gefängnisses verloren. Als wäre ich im Gefängnis geboren. Was ich über die Welt weiß, habe ich von Besucher*innen erfahren oder in Büchern gelesen...

Die Zeit hinterlässt bleibende Wunden, das wissen wir. Diese Eigenschaft der Zeit mag ich nicht. Der Ort erscheint hier als eine Form des Bösen, erschaffen von Menschenhand. Diese Eigenschaft des Ortes mag ich nicht. Raum und Zeit sind hier Komplizen der Ungerechtigkeit, die ständig mein Leben in Brand stecken.

Man hätte der Zeit etwas bieten müssen, das daran erinnert, dass es auch das Gute gibt. Vielleicht habe ich deshalb angefangen, Gedichte zu schreiben. Auch war es nur so möglich, dass der Ort sich ausdehnte und zu einem Ort wurde, an dem ich atmen konnte. Sonst wäre es sehr schwierig geworden, diese lebenslange Ungerechtigkeit zu ertragen.

Je freier der Mensch wird, umso besser kann er die Grenzen von Raum und Zeit erweitern und sich Platz schaffen. Und je mehr diese Grenzen erweitert werden, umso größer wird die Freiheit. Ich spreche von einer Zeit, die mir gehört. Einer Zeit, die unumgänglich abhängig ist von der generellen Zeit, aber gleichzeitig relativ ist. Die Zeit für Lyrik und Kreativität. Wenn die Zeit sich ausdehnt, wird sich auch der Ort ausdehnen!«

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Die Lyrik hakte sich bei Çomak beim Kampf um die Erweiterung von Raum und Zeit ein. »Seine Kreativität hat die Mauern gebrochen«, seine Worte waren nach draußen gedrungen. Im Gefängnis hat er acht Gedichtbände geschrieben. Seine handschriftlichen Gedichte, die er zur Post gab, wurden von Literat*innen auf öffentlichen Plätzen gelesen, Dokumentarfilme wurden über ihn gedreht, aber er hat nichts davon gesehen. Und doch hat er immer weiter geschrieben:
»Ich wurde mit Ungerechtigkeit getroffen, ich wurde viel verprügelt, und das wurde zu einer ständigen Prüfung. Die Lyrik erlaubte mir, mich zuerst den tiefen Erschütterungen scharfer Enttäuschungen zu stellen, auf die ich überhaupt nicht vorbereitet war, und dann mit einem erneuerten Bewusstsein das Ausmaß meines Verlustes zu akzeptieren.«, sagte er.

In seinem Buch Karınca Yuvasını Dağıtmamak (Den Ameisenbau erhalten), das im letzten Jahr erschien, erzählt Çomak von alldem, was er in all der Zeit angesammelt hat. Von seiner Kindheit, seiner Verhaftung, von seiner lebenslangen Sehnsucht nach dem Duft von Erde, seinem Widerstand, seiner Lyrik, seiner Betrachtung der Welt und seiner Suche nach Gerechtigkeit. Mit der Sensibilität eines Dichters, so schlicht wie überwältigend.

»Die Justiz hat meinem Leben ein Bein gestellt, ich bin gestürzt. Ich bin schwer gestürzt und es hat mich Jahre gekostet, um wieder aufzustehen. Doch ich habe es geschafft, mich an die guten Dinge zu erinnern, die einen Menschen ausmachen und mich von toxischen Gefühlen fernzuhalten. 

Und die Hoffnung war immer an meiner Seite, oder ich habe mich nicht von ihr entfernt, als ich die schwere Dunkelheit der Hoffnungslosigkeit schultern, die dürre Stille, die das Herz und den Verstand befallen, vertreiben und das Leben in Ordnung halten musste.«

Und die Hoffnung hat sich nicht von ihm entfernt. Das freie Theater Moda Sahnesi in Istanbul hat beschlossen, sein letztes Buch auf die Bühne zu adaptieren. Çomak bekam die Nachricht übermittelt. Der Dichter hat mit der Aufregung draußen aufgeführt zu werden, während er drinnen ist, innerhalb eines Monats eine Stückfassung geschrieben.

Vor kurzem hat er von seinem Recht auf ein Telefonat pro Woche Gebrauch gemacht, um das Team anzurufen und zu fragen, wie die Proben laufen. 

Die Kraft der Lyrik, der Schrift, der Kreativität, die Mauern durchbricht.
Çomak sagt, »Dieses sture Böse darf nicht vergessen werden. Bitte erzählt wenigstens einem*einer Freund*in von dieser Ungerechtigkeit, die ich erfahre.«

Drinnen vergessen zu werden, ist genauso schlimm, wie mit Ungerechtigkeit geprüft zu werden. Deshalb wollte ich Ihnen, meinen Freund*innen, zur Eröffnung einer neuen Spielzeit von diesem langjährigen Insassen und der Grausamkeit, der er ausgesetzt ist, erzählen. 

Und bevor ich meine Kolumne beende, möchte ich noch einmal fragen: Könnten Sie, nach einem Leben hinter Mauern den Satz »Leben, ich liebe dich« sagen?

Wenn Çomak das tun kann, ist es unsere Aufgabe, dafür zu kämpfen, das Leben für alle gerecht zu machen.