Paris, 24. Juni 1935, abends

Rede von Heinrich Mann

Es ist recht merkwürdig, dass im Jahr 1935 eine Schriftsteller- Versammlung nach der Freiheit des Denken verlangt: denn schließlich, das geht hier vor. Im Jahr 1535 wäre es neu gewesen. Die Eroberungen des individuellen Denkens, damit fängt die moderne Welt an – die jetzt der Auflösung nahe scheint. Dadurch wird alles wieder in Frage gestellt, sogar was gar Jahrhunderte lang erledigt gewesen war. Die Gewissensfreiheit, so viele Geschlechter haben um sie gekämpft, und jetzt ist sie nicht mehr sicher. Das Denken selbst ist gefährdet, und doch ist der Gedanke der Schöpfer der Welt, in der wir noch leben. Nicht nur aus taktischen Gründen vermeide ich, von einem einzelnen Land zu sprechen. Die bewusste Tendenz ist allgemein, wenigstens im Westen. Die Glieder einer und derselben Gesellschaft sind auch nicht abzutrennen. Die Symptome derselben organischen Erkrankung äußern sich an den verschieden Stellen mit mehr oder weniger Heftigkeit: weiter lässt sich nichts sagen. Gewiss, die Freiheit zu denken ist vorhanden, sonst hätten wir überhaupt nicht zusammenkommen können. Wo sie aber noch besteht, hat man leider nicht den Eindruck, dass sie für lebensnotwendig gilt. Ein Land dagegen, das den Gedanken schon unterdrückt  hat, bekennt sich laut zu der Meinung, dass die Unterdrückung des Gedankens durchaus lebensnotwendig ist. Der Führer eines Zwangsstaates wird schlankweg fordern, dass die Pressefreiheit in dem benachbarten Staat, der sie noch hat, unterdrückt werden soll. Andererseits ist noch nie gehört worden, dass Vertreter des liberalen Staates auch nur die geringste Freiheit verlangt hätten für das Volk nebenan, das alle Freiheiten verloren hat. Da hat man den entscheidenden Unterschied. Es sind zwei entgegengesetzte Lebensauffassungen; aber die eine fühlt den Kraftzuwachs und geht zum Angriff über.Widerstand ist geboten. Man muss sich wappnen, nicht mit Geduld, sondern mit gefestigten Überzeugungen. Man muss Beispielen folgen und sich einig werden, was zu tun ist. Wir dürfen nicht warten, bis dies Unglück vollständig wird und sich ausdehnt über noch mehr Länder der westlichen Gesittung. Zu verteidigen haben wir eine ruhmreiche Vergangenheit und was sie uns vererbt hat, die Freiheit zu denken und nach Erkenntnissen zu handeln. Wir haben strahlenden Beispielen zu folgen. Wir sind die Fortsetzer und Verteidiger einer großen Überlieferung: Wir, nicht aber die anderen, die den Unterdrückern des Gedankens zu willen sind oder ihnen Sympathie zeigen. Wenn die Unterdrücker ihrerseits großtun, als verteidigten sie irgendetwas, dann wüsste man gern, was. Die westliche Zivilisation? Sie pfeifen drauf und führen sie fälschlich im Munde. Anstandslos opfern sie das Denken, wenn es ihre Interessen bedroht oder ihnen persönlich lästig wird. Schon sind sie da, mit Verbrennungen, Ausbürgerungen und den anderen Mitteln, die der Höhe ihres Geistes entsprechen.

 

Auszug aus Heinrich Manns Rede, die er während des Internationalen Schriftstellerkongresses in Paris 1935 gehalten hat.