Von Oscar Olivo
Oscar Olivo hat sowohl die deutsche als auch die englische Fassungen der Geschichte selbst verfasst. Sein Umgang mit der deutschen Sprache entwickelt eine eigene Kraft, deren Sog wir durch gut gemeinte Korrekturen nicht schmälern wollten.
ich mache die tür auf. wir leben in ein »high-ranch«, wenn mann die haustür aufmacht, kann mann entweder die fünf treppen nach oben gehen (dort wohnen wir), oder die 4 treppen nach unten im subterrain gehen (dort wohnen anderen). sofort sehe ich meine schwester. sie steht oben auf der treppe, mit ihren händen fest um den reling, ihre knöchel werden weiss. sie sieht blass aus. ihre augen schauen wirr nach unten zu mir. sie schaut mich an, aber sie erkennt mich nicht. ihre haare sind leicht derangiert und sie trägt einen grünen viel zu langen grossen t-shirt. meine linke hand hält der kupfer imitat türknauf noch in der hand und meiner rechte die haus schlüssel.
wenn das eine fernsehfilm wäre, würde er nicht »meine schwester« heißen, sondern »die andere schwester«. ich bin im falschen film. der fernsehfilm »meine schwester« wäre über eine schwester, die vier jahre älter als ich ist. er wäre über eine schwester, die eine dichterin, eine malerin, eine tänzerin ist! er wäre über ein tanzpaar! sie machte den einzigen platte von michael jackson die wir hatten an, und wir schwangen unsere arme und beine durch den wohnzimmer, bis wir beide nicht mehr konnten. sie brachte mir merengue bei, indem sie meiner schultern mit ihren händen runter presste und sagte: »nun beweg nur deiner hüfte!« wir überlegten uns choreografien aus, die wir zur zweit tanzen könnten. sie ist meine beschützerin. sie erlebte alles vor mir, und könnte mir ein prolog für das was noch zu kommen ist, geben. der realität ist kein film, aber schönheit kann der dunkelheit überstrahlen, und hoffnung kann ein prolog zur änderung sein. hoffnung, änderung und schönheit sind alle teile des lebens »meine schwester«. ich will die tür weiter auf machen, aber da stehen ja zwei polizisten. ich erschrecke mich. die polizisten sind unsicher ob wir uns kennen, ich sage: »doch, doch, das ist doch meine schwester. ich komme gerade von der arbeit und meine eltern kommen auch gleich (was gar nicht stimmt).« die polizisten bitten meiner schwester das zu bestätigen. sie nickt. sie hatte die polizei angerufen, weil sie angst hatte. ich sage: »ich kümmere mich drum, danke.« sie gehen.
1-2-3-4-5 treppen (ich hüpfe fast), nun stehe ich oben neben ihr. sie dreht sich sofort weg und geht. normalerweise war zu hau se viel los, aber gerade ist niemand heim. der fernseher läuft nicht, das radio in der küche ist aus, und keiner spricht. sie geht durch die küche. ich rufe sie. sie ist wie ein fremdgesteuertes spielzeugauto. nun steht sie in ihr zimmer, im dunkeln. ich gehe an ihr sachen vorbei und denke daran wie es früher war. sie spielte die flöte (das war schön). nun steht sie am offenen fenster und lehnt ihr stirn gegen den moskitonetz. sie schaut nach rechts auf unsere baum im garten. der weht wild in der wind und der mond hat sich tief in dem himmel versteckt. draußen ist es dunkler als dunkel. endlich sagt sie was, aber leise: zitatstücke aus der bibel, über das regen, der wind und das ende der welt. ich denke daran, wie meine schwester mir immer die lyrics von radioliedern, die wir im auto hörten, in mein ohr flüsterte. madonnas vogue lied war für sie ein lied über gleichheit: »it makes no difference if you're black or white, if you're a boy or a girl ...« ihre textstücke passen zu das bedrückende da draußen, aber ich sage: »die welt geht doch nicht zu ende, es wird ja nur bald regen.«
sie dreht sich wieder sofort weg und geht. im dunkeln zu gehen stört sie nicht. sie geht weiter ins wohnzimmer. ich bleibe aber in der küche stehen, hole mein rucksack und setze mich am küchentisch. ich werde meiner hausaufgaben machen. wenn ich alles mache wie ich es bis gestern machte, wird alles so sein wie es immer war. ich weiss nicht wie lange ich mich mit meiner hausaufgaben beschäftige, aber dann quietscht es in mein ohr. es braucht einer weile bis ich kapiere das es ein schrei ist. ich kann es aber nicht einordnen. als der schrei nochmal kommt, weiss ich, dass es aus dem wohnzimmer kommt. ich renne ins wohnzimmer. direkt vor dem fernseher steht eine frau. eine frau die ich nicht kenne. sie steht mit weit geöffnete mund und schreit.
erst da erkenne ich, dass die frau meine schwester ist. ich sehe nur den mund. ich habe noch nie einen erwachsene so weinend gesehen. sie schreit: »jewel is dead!« (jewel ist ein sängerin die sie sehr mochte). im fernseher sind leichen zu sehen. es ist ein doku film über die ermordete frau von oj simpson (und ihr lover). ich schalte mal auf mtv, aber jewel ist dort nicht zu sehen. ich verstehe nicht was los ist. meine schwester arbeitete mal viel beim mcdonalds. ich weiss noch, wie meine mutter ihr am sonntags einen fussbad vorbereitete, da ihre füsse von das lange stehen, so weh taten. sie war die erste die einen auto hatte. sie war selbstständig. ich stehe dort und mache den fernseher aus. wenn meiner mutter zuhause wäre, wurde sie sagen »sie muss nur genug schlafen und was richtiges essen, und es wird ihr besser gehen« ich gebe ihr einen aspirin und sage »leg dich jetzt einfach schlafen, ja?« später, nachts, als alle schlafen, bin ich wieder am küchentisch am hausaufgaben machen. in der stille verliere ich mich in meine papiere. plötzlich sehe ich meine schwester vor mir im schlaf gewand stehend. ihre augen suchen nach etwas, die augenbälle haben sich verselbstständigt. ich erschrecke mich, aber frier mein körper ein, um kein unwohl zu zeigen. mit meinem stift noch in der hand sag ich kurz und schroff: »geh schlafen, es ist spät!« sie dreht sich um und geht wieder in ihr zimmer wie auf autopilot. für eine weile danach ginge sie leicht gekrümmt mit füße schleppend durch den haus. ich sagte immer: »hör auf so zu gehen. geh gerade!« sie sagte »die medikamente machen das ich mich alt fühle.«
warum kann ich meine schwester nicht so sehen wie ich will, wie sie immer war, wie sie auch noch ist? was wissen ärzte, wirklich? sie bennenen nur symptome. als meine schwester ihre erste panik attacke bekam, dachte sie, dass sie davon sterben wurde. keinen arzt, keinen krankenschwester könnte ihr beruhigen. auf einmal sitzt ein mann an ihr krankenbett. er war transluzent. sein gesicht war licht. als der mann ihr hand anfasste fühlte sie sich erleichtert und geborgen. endlich fühlte sie: »jemand kümmert sich.« aber ein arzt sieht kein engel. ein arzt sieht schizophrenische symptome. ich denke die momente ihre verwirrtheit einfach weg. wie das nachwort eines buches, die ich nicht schaffe zu lesen. als meiner schwester panisch alle fenstern zuhause ständig zu haben müsste, sodass keinen schlechtes energie im haus rein kommen konnte, sah ich immer noch die schwester mit dem ich so viel reden könnte und lachen könnte und vertrauen könnte. als wir sie doch im pyschiatrie abliefern müssten, schrie sie rum. meine mutter und ich wollten mit ihr gehen, um sie zu beruhigen, aber die krankenschwestern hielten uns zurück. ich wollte selbst zurück schreien: »das ist doch meine schwester! lass sie los!!« meine mutter und ich wurden raus gebracht. meine mutter weinte und wollte wieder rein gehen, nun hielt ich sie zurück. ich blieb stehen wie einer säule, schaute in der ferne und drückte das gefühl auch-weinen-zu-wollen runter.
es ist wie eine fernsehfilm. manchmal verpasse ich was, weil ich was aus der küche hole oder aufs toilette gehe. in dem moment war sie krank. als ich zurück im wohnzimmer komme, weiß ich das ich was verpasst habe, aber ich will gar nicht wissen was. ich schaue einfach weiter. wenn wieder etwas schlimmes kommt, schalte ich den fernseher kurz aus, und mache es wieder an, wenn ich das gefühl habe, dass das schlimme vorbei ist. trotzallem schaue ich die ganze zeit immer noch den gleichen film: »meine schwester.«
OSCAR OLIVIO ist in New York geboren. Nach seinem Bachelor of Arts Abschluss an der Columbia University emigriert er während der Bushära nach Deutschland. Dort schließt er ein Studium der Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin ab. Danach wird er Ensemblemitglied am Schauspiel Hannover bis zur Spielzeit 2015/16, wo er u. a. mehrere Soloabende auf die Bühne bringt, wie z. b. Ich und die Finanzkrise. Am Gorki ist er bereits in Othello zu sehen und ab 9. September in Yael Ronens neuester Stückentwicklung Denial.