Das moosgrüne Album der Roten Armee

Von Lutz Seiler

Am 12. Juli 1984 überreichte uns Kommandeur Kolupajew ein moosgrünes Fotoalbum, dessen Einband mit dem Umriss zweier goldener Rosen verziert war. Die Sowjets, unsere Waffenbrüder, wie man damals noch sagte, waren in Merseburg stationiert, nur ein paar hundert Meter von unserer eigenen Einheit entfernt, dem 4. Pionierbaubataillon der Nationalen Volksarmee.
      Von früheren Einsätzen her wussten einige der dienstälteren Soldaten, dass der Kommandeur der deutschen und der Kommandeur der sowjetischen Einheit tatsächlich befreundet waren. Was sie verband, war, kurz gesagt, die Ornithologie – eine Vorliebe für exotische Vögel. Beide hatten eigene Volieren in ihren Schrebergärten, und die Dienstälteren (Soldaten des dritten Diensthalbjahres) waren dabei gewesen oder wussten es von noch älteren, längst wieder entlassenen Jahrgängen, dass Oberstleutnant Besser, der Kommandant unseres Bataillons, dem Kommandeur der Russen (wir sagten „Russen“, obwohl es in Merseburg vor allem Kirgisen, Kasachen, Georgier und Ukrainer waren) einmal mehrere Rollen feinmaschigen, rostfreien Drahts geschenkt und zugleich ein paar Soldaten unserer Truppe im Garten des Kommandeurs vorbeigeschickt hatte, die dort eine neue, größere Voliere aufzubauen halfen.
      Wenn ich sage „unsere Truppe“, meine ich nicht unsere Einheit, das Pionierbaubataillon, das nach der Grundausbildung im ersten Diensthalbjahr für den Rest seiner Dienstzeit ausschließlich „in der Produktion“, wie es hieß, eingesetzt wurde (die meisten schaufelten Karbid in den benachbarten BUNA-Werken, an jedem Morgen wurden sie mit LKWs ins Werk gefahren und am Abend wieder abgeholt), sondern jene kleine, interne Handwerker-Truppe, die Oberstleutnant Besser sich je nach ziviler Qualifikation als „schnelle Eingreiftruppe“ zusammengestellt hatte: zwei Maurer, zwei Klempner, zwei Maler, zwei Schweißer bzw. Metallbauer, zwei Tischler sowie die beiden Verwalter der Effektenkammer und des Werkzeuglagers. Zwölf Soldaten, die ausschließlich dafür vorgesehen waren, die laufend anfallenden Reparaturen in den Baracken und Anlagen unserer vollkommen maroden Kaserne auszuführen, die im Sprachgebrauch der Offiziere nur das „alte Objekt“ genannt wurde, ein Ort, der bereits eine Geschichte als Wehrmachtskaserne, Gefangenenlager und Flüchtlingslager hatte. Wahrscheinlich wurde der Name auch in Abgrenzung vom sogenannten „neuen Objekt“ gebraucht, einem Kasernenneubau, der, wie es hieß, bald fertiggestellt sein würde.
      Aufgrund meines Berufs als Maurer (Baufacharbeiter, genauer gesagt) wurde ich nach meiner Grundausbildung zum Fahrer eines W 50 Ballon (ein Fünftonner mit Ballonreifen) der Reparatureinheit des Kommandeurs zugeteilt. Heute noch hege ich die Phantasie, dass sich Oberstleutnant Besser die Soldaten „seiner Truppe“ selbst aussuchte, aufgrund irgendwelcher Daten auf einer Karteikarte mit meinem Namen – dort stand „Maurer“ und darunter vermerkt waren in einer sauberen Bürohandschrift Erfahrungen nicht nur im Mauerwerksbau, sondern auch im Beton- und Schalungsbau, was nicht wenig zählte und vielleicht den Ausschlag gegeben hatte.
      Das alles, die Vogel-Freundschaft der Kommandeure, die Existenz unserer Handwerker-Spezialeinheit und die, wie sich herausstellen sollte, erbärmlichen Zustände in der Kaserne der Russen, ging diesen Frühlingswochen des Jahres 1984 voraus, die wir bei den Sowjets verbrachten, um ihre Verpflegungsbaracke in einen halbwegs funktionierenden, halbwegs annehmbaren Zustand zu versetzen. Was ich in dieser Zeit erlebt und gesehen habe, ist eine Geschichte für sich. Ein paar Kirgisen und einige Kasachen waren uns als Handlanger zugeteilt. Für sie war es eine Auszeichnung, mit uns arbeiten zu dürfen. Sie waren einfache Soldaten, die ihren dreijährigen Grundwehrdienst ableisten mussten – in der deutschen Fremde und doppelt so lange wie wir. Als sie daheim auf irgendeinem Militärflugplatz ins Flugzeug verfrachtet worden waren, hatte ihnen niemand gesagt, wohin die Reise gehen würde. Es folgten drei Jahre, in denen sie in der Regel kein einziges Mal nach Hause kamen.
      Fest steht, dass wir das Wort von den „Freunden“, wie die Sowjets im Volksmund hießen (das Wort wurde mehr oder weniger ironisch, aber nie ohne Anteilnahme gebraucht, Anteilnahme wegen der für alle mehr oder weniger sichtbaren, elenden Umstände der Soldaten in den Kasernen) mit Leben erfüllten, wie man so sagt oder früher einmal gesagt hat. Und fest steht, dass wir dort in der Kaserne ein paar Dinge gesehen haben, die schrecklich waren. Darunter Hunger und Prügelstrafen – ad hoc vollzogen (im Vorbeigehen gewissermaßen), aber auch beim Appell, vor angetretener Mannschaft.
      Für mich war es das erste Mal, dass ich Russisch sprechen wollte und gern Russisch sprach und bedauerte, es nicht besser zu beherrschen, obwohl man uns in der Schule (seit Klasse 5) mehr als genug Gelegenheit dazu gegeben hatte (man lernt nicht wirklich gut unter Zwang). Es ist das gleiche Bedauern, das ich heute empfinde, wenn ich Mandelstam lese oder Achmatowa, meine zweisprachigen Ausgaben aus der „Weißen Reihe“ von Volk und Welt. Zugleich empfinde ich das Glück, das Kyrillische lesen zu können – denn was ich so immer haben kann, ist der Klang dieser Verse, dieser zauberhaften Sprache, auch wenn ich vieles nicht verstehe, die Musik dieser Sprache kann ich verstehen.
      Das moosgrüne Fotoalbum der Roten Armee: Als unsere Arbeiten abgeschlossen waren, an jenem sehr warmen Tag im Juli, hat uns ein russischer Mannschaftswagen aus der Kaserne abgeholt. Wir wussten nicht, was uns erwarten würde, befohlen war Ausgangsuniform, erlaubt war die Sommervariante ohne Jacke. Ich weiß noch, dass wir uns lustig machten über die Geheimniskrämerei – waren sie nicht wie Kinder, diese Vogel-Kommandeure? Und ich erinnere mich, dass ich eine Unruhe empfand, vielleicht sogar Angst (sorgsam verborgen), die sich noch einmal verstärkte, als wir ankamen und eine kleine Einheit der Sowjets zum Appell angetreten war.
      Wir mussten vorn stehen, vor der Truppe, in einer Reihe, und einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann begann der Vorbeimarsch – mit Ehrenbezeigung. Und ohne Musik. Nur die Kommandos eines Sergeanten und das Geräusch der Stiefel im Gleichschritt. Ein Vorbeimarsch vor einfachen Soldaten im Grundwehrdienst: ein im Grunde unmöglicher Vorgang, ein surrealer Moment. Ein Vorbeimarsch einfacher Sowjetsoldaten vor einfachen deutschen Soldaten. Ein militärischer Vorbeimarsch, der letztlich zivilen Berufen galt und dem, was wir damit ausgerichtet hatten (unter Freunden), ein Vorbeimarsch vor Maurern, Klempnern, Tischlern und Malern. Zum Dank.
      Die Rede Kolupajews war nicht besonders lang. Danach wurden wir einzeln nach vorn gerufen an den kleinen, mit rotem Samt bedeckten Tisch des Kommandeurs, der jedem von uns ein Exemplar des moosgrünen Albums und eine Urkunde überreichte. Ein Händedruck, ein kurzes Salutieren. In einem kleinen Sichtfenster auf dem Einband des Albums steckte der Stern der Sowjetarmee. Darunter war ein Schriftzug geklebt, drei russische Worte, die übersetzt so viel hießen wie „Brüder der Waffen“, Waffenbrüder.
      Im Album waren wir selbst: Ein Militärfotograf hatte uns und unsere Arbeit dokumentiert. Zur Erinnerung.


Stockholm, 4. Mai 2020
© Lutz Seiler