Can Dündars Theater Kolumne #52

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Karikatur Serkan Altuniğne

Karikatur: Serkan Altuniğne

– »Von wegen der Sessel soll nicht reden, er wird reden!«

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#52 EIN LEERER SESSEL BRICHT PUBLIKUMSREKORDE

Der Fernsehkommentator Cem Küçük, der in den Medien die Rolle des Regierungssprechers übernommen hat, sagte in einer Diskussion Ende Juni:
»In Deutschland redet man seit einem Monat über Tomatenpreise. Das ist das Topthema im Land… Der Preis für ein Kilo Tomaten ist von 4–5 Euro auf 20 Euro gestiegen. Eine unglaubliche Entwicklung... So etwas hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben.«

Nach der Sendung schickten in Deutschland lebende Menschen dem Sender Fotos von Schildern mit Tomatenpreisen von 1–2 Euro. Die schafften es natürlich nicht in die Sendung.


Das ist das Problem in Ländern ohne unabhängige Medien: In einer polarisierten Gesellschaft bleibt jedes Lager in seiner eigenen Bubble und glaubt nur der eigenen Presse. Daher ist es nicht möglich, eine Lüge – wie im Fall der Tomaten – richtigzustellen. So bringt man Erdoğans Unterstützer*innen, die derzeit mit Armut zu kämpfen haben, dazu, sich in ihrem Elend zu trösten, indem sie Mitleid mit den Deutschen haben, die sich keine Tomaten mehr leisten können.

Die Journalist*innen, die über den tatsächlichen Tomatenpreis in Deutschland zu berichten versuchen, Lügen regierungstreuer Journalist*innen aufdecken oder über die katastrophale wirtschaftliche Lage und das Unterdrückungssystem im Land berichten, sitzen entweder im Gefängnis, sind im Exil oder wurden zum Schweigen gebracht. Und die wenigen oppositionellen Medien, die noch senden, gehen höchste Risiken ein.

Gegen den Eigentümer des Fernsehsenders Halk TV, der in London lebt, wurde im vergangenen Monat ein Haftbefehl erlassen. Der Sender selbst sollte mit der Begründung, er habe mit seinen Sendungen »das Volk zur Feindseligkeit angestiftet«, für zehn Tage vom Sendebetrieb ausgeschlossen werden. Die linearen Fernsehsender Halk TV, Sözcü TV und Tele1 versuchen sich zwar durch äußerst vorsichtige Berichterstattung über Wasser zu halten, jedoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Sendelizenzen entzogen und sie vollständig zum Schweigen gebracht werden.

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Angesichts dieser Lage versuchen Journalist*innen, Kommentator*innen und berühmte Fernsehgesichter, die keine Möglichkeit mehr haben, in den traditionellen Medien zu arbeiten, durch eigene Kanäle in den sozialen Medien, insbesondere auf YouTube, weiterhin auf Sendung zu gehen. Ich nenne das den »neuen Guerillakrieg der Journalist*innen, die ihre regulären Armeen verloren haben«. Jede*r Kommentator*in hat jetzt einen eigenen Kanal; jedes Smartphone ist eine Kamera; jedes Wohnzimmer ein Studio.  Seit einiger Zeit schikaniert die Regierung jedoch auch diese. Im Land versucht man, sie mit Klagen, physischen Angriffen und Drohungen einzuschüchtern. Jenen, die im Ausland sind, wird in Kooperation mit Elon Musk durch Sperrungen ihrer Accounts die Arbeit schwer gemacht. Trotzdem erreichen die YouTube-Kanäle dieser Journalist*innen ein größeres Publikum als alle regierungsnahen Sender zusammen.

Ein Beispiel für diese Form des Widerstands ist der Journalist Fatih Altaylı. Noch vor zwei Jahren war er Chefredakteur und Moderator bei einem der meistgesehenen Fernsehsender. Auf Druck der Regierung musste er gehen. Wie viele andere eröffnete er daraufhin einen eigenen Kanal auf YouTube und setzte seine Sendung dort fort. Innerhalb kurzer Zeit erreichte sein Kanal 1,5 Millionen Abonnent*innen. Jedes Video mit dem Titel »Fatih Altaylı kommentiert« wurde durchschnittlich eine halbe Million Mal gestreamt, was die Regierung zunehmend beunruhigte. Schließlich bot eine Äußerung Altaylıs in einer Sendung im Juni dem Regime den ersehnten Vorwand zum Einschreiten. Altaylı sprach darüber, dass das türkische Volk stets seine demokratische Willensbildung verteidigt und sich schon immer gegen Eingriffe von Herrschenden zur Wehr gesetzt habe:

»Dieses Volk hat selbst den Sultan ausgebuht oder erdrosselt, wenn er ihm nicht passte. Es gibt nicht wenige osmanische Sultane, die in Komplotten oder Attentaten ums Leben kamen oder deren Ermordung als Selbstmord getarnt wurde.«

Diese Worte erzürnten Erdoğan, der seit Jahren aus Angst vor Attentaten mit einem Heer an Leibwächtern lebt und kaum unter Menschen geht. Wie immer reagierte zunächst der Chefberater des Präsidenten. Er postete auf »X« ein manipuliertes, strafrechtlich relevantes Zitat aus Altaylıs Aussage mit dem Kommentar: »Altaylı, dein Wasser beginnt zu kochen.« Wer das türkische Justizsystem kennt, weiß, dass das eine direkte Anweisung an Staatsanwälte und Richter ist. Tatsächlich wurde Altaylı am nächsten Morgen in seinem Haus festgenommen, wegen »öffentlicher Bedrohung des Präsidenten« angeklagt und ins Gefängnis gesteckt.

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Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Die Betreiber von Altaylıs YouTube-Kanal hatten eine kluge Idee: Sie entschieden, den Kanal offen zu lassen. Der Titel »Fatih Altaylı kommentiert« wurde zu »Fatih Altaylı kann nicht kommentieren« geändert, der Sessel, auf dem er im Studio saß, blieb leer, und seine kurze Verteidigung vor dem Haftrichter wurde als Text eingeblendet. Nachdem der Text drei Minuten lang zu sehen war, blieb der leere Sessel weiter im Bild. Die Reaktionen waren unglaublich. Innerhalb von 12 Stunden wurde der leere Sessel von etwa einer Million Menschen »angesehen« und die Gesamtzahl der Streams stieg umgehend auf über 1,5 Millionen. Ein stiller Akt der Unterstützung, ein einzigartiger Protest!

Als der Kanal weiterhin und mehr denn je aufgerufen wurde, begann Altaylı aus dem Gefängnis Briefe über seine Anwälte zu senden. Das Gefängnis ist voll mit bekannten Intellektuellen der Türkei und Altaylı berichtete über sie und von seinem eigenen Alltag. Die Briefe wurden eingesprochen und auf Altaylıs Kanal veröffentlicht. Jede dieser »Sendungen« erreichte Hunderttausende Zuschauer*innen. Zusätzlich begann ein regelrechter Besucherstrom im Gefängnis – vor allem Politiker*innen und Anwält*innen kamen, die mit Altaylı Insiderinformationen teilten, die er schriftlich kommentierte und senden ließ.  So wurde der Kanal, durch exklusive Nachrichten und Insiderberichte aus dem Gefängnis, immer populärer.

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Das zeigt doch, dass Gedanken jedem Verbot trotzen, dass Nachrichten jede Mauer durchdringen und jedes Hindernis überwinden können… Ein leerer Sessel, Nachrichten seines Inhabers aus dem Gefängnis und eine Gemeinschaft, die durch das bloße Betrachten dieses leeren Sessels sowohl informiert wird, als auch moralische wie finanzielle Unterstützung bietet…

Sie können es erahnen: Die türkische Regierung bereitet sich bereits darauf vor, auch den letzten Atemweg des freien Journalismus zu stopfen – YouTube soll blockiert werden. Kaum war Altaylı festgenommen, wurde seinem Kanal eine 72-stündige Frist zur Lizenzbeantragung gesetzt. Erhält er keine Lizenz, wird der Kanal gesperrt. Das ist die neueste Methode der Regierung: Die Zeitung Cumhuriyet war das erste Medium, von dem eine Lizenz verlangt wurde. Nun wird einigen gezielt ausgewählten Kanälen, die Beantragung einer zehnjährigen Sendelizenz auferlegt. Eine Sendelizenz ist teuer, aber was noch wichtiger ist: Wer eine Lizenz bekommt, gerät auch in die Fänge der Kontrollmechanismen der Regierung. Was folgt sind Strafen, Prozesse, Schließungen. Kurz gesagt: Ob du aus dem Ausland oder aus dem Gefängnis sendest – du kannst der Kontrolle nicht entkommen. Die Lösung? Entweder man findet neue Wege und Plattformen, um in diesem Katz-und-Maus-Spiel die Wahrheit herauszuschreien, oder die Gesellschaft bleibt allein mit der Lüge zurück, dass in Deutschland jetzt das Kilo Tomaten 20 Euro kostet.


Übersetzung aus dem Türkischen von 
Çiğdem Özdemir