CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #35

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU

 

Serkan Altuniğne Karikatur


– Ja, für einen kurdischen Sozialisten wie mich, ist das Leben sehr hart geworden. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen. Warum sind Sie hier?
– Meine Mutter ist Armenierin, mein Vater Kurde, ich bin Alevit*in, Sozialist*in und gay…
– L… Lass mich deine Hand küssen…



Zeichnung: Serkan Altuniğne
 

Köşe yazısının Türkçe orijinal metni için tıklayınız.


ERDOĞAN HAT ES AUF LGBTQI+ ABGESEHEN

Es gibt in der Türkei eine Liste der »inneren Feinde«, die sich nie ändert: Ganz oben auf dieser Liste sind immer die Kurd*innen. Seit 100 Jahren werden sie als »Spalter« beschuldigt, ausgegrenzt, vor Gericht gestellt, eingesperrt und ermordet. 

Die Alevit*innen waren in ferner und naher Vergangenheit stets Opfer von Massakern. Der Staat vertraut ihnen keine Staatsdienste an. 

Auch die Sozialist*innen sind allgegenwärtig auf der »roten Liste«. Auch sie sind »schädlich«, weil sie »die Herrschaft einer Klasse (der Arbeiter*innenklasse) über andere Klassen errichten wollen« und unter Beobachtung und Druck gehalten werden müssen.

Die sogenannten Bedrohungen nach diesen »Dauerverrätern«, gemeinsam mit den immer weniger werdenden Minderheiten, variieren je nach Zeitgeist, Macht- und Kräfteverhältnissen: So galten die Radikalislamist*innen einst als »Feinde des Regimes«, jetzt sind sie Partner*innen an der Macht. Die Gülen-Anhänger*innen hingegen, die einst Teilhaber*innen der Macht waren, gelten seit etwa 10 Jahren als »Feinde des Regimes«.

Mit der AKP-Regierung hat es nun auch die LGBTQI+ auf diese lange Liste geschafft. Ihr Vergehen ist es, »die heilige Institution der Ehe zerstören zu wollen«.  Das ist ein Vorwurf, der dem Versuch gleichkommt, den Staat zu stürzen. Daher reicht sogar das Hissen einer Regenbogenflagge in der Türkei in der jüngsten Zeit aus, um verdammt zu werden.

Dass sie es auf die Liste geschafft haben, heißt nicht, dass sie bis dato ein gutes und glückliches Leben führten. Sie waren schon immer in der Kategorie der Verdammten. Obwohl die Divan-Poesie des Osmanischen Reichs voll von Versen homosexueller Liebe war, war das Leben für Nicht-Heterosexuelle nie einfach. Ein Zeitungsartikel in meinem Archiv aus den 1950er Jahren trägt die Überschrift: »Homosexuelle wollen als normale Menschen gelten.« Da haben wir doch einen beachtlichen Weg zurückgelegt, oder?  

Haben wir nicht. Denn sie werden immer noch als Bedrohung gesehen und kämpfen um ihr Existenzrecht.

***

Jahrzehntelang waren einige »als Frauen verkleidete« (wie man damals sagte) die beliebtesten Künstler*innen der Türkei. Am meisten wurden sie geliebt, gehört und gesehen. Sie waren immer die Hauptacts des Silvesterabends, als es noch nur einen Fernsehsender gab: Zeki Müren, Bülent Ersoy, Seyfi Dursunoğlu...

Weder der Minirock von Zeki Müren, noch das Make-Up von Bülent Ersoy, oder die perlenbestickten Paillettenkleider von »Huysuz Virjin« (Künstler*innenname der Dragqueen Seyfi Dursunoğlu; Anm. d. Übers.) hat die Zuschauer*innen gestört. Im Gegenteil, sie waren beliebter als die »straighten« Künstler*innen. Doch während sie in ihren extravaganten Kostümen unter strahlendem Bühnenlicht beklatscht wurden, wurden queere Personen in den Seitenstraßen Istanbuls gedemütigt, gejagt, ausgegrenzt und getötet.

Diese grenzenlose Heuchelei hält sich seit Jahrzehnten.

Bülent Ersoy ist ein Paradebeispiel dafür:

1980 wurde gegen Ersoy gerichtlich ermittelt, weil sie ihre Brüste unter dem Jubel des Publikums auf der Bühne gezeigt hatte. Daraufhin wurde sie verhaftet und später wegen Beleidigung des Richters eingesperrt. Aber diese Repressalien machten sie noch entschlossener. Sie beschloss, ihr Geschlecht anzugleichen und ließ sich 1981 in London operieren. In der Zwischenzeit putschte jedoch das Militär in der Türkei, und die neue Militärverwaltung setzte die sexuelle Freiheit genauso aus wie andere Freiheiten auch. Trans- Künstler*innen durften nicht mehr auftreten. Ersoy hatte es schwer; sie überlebte mit Konzerten im Ausland. Im Jahr 1983 entschied der Staatsrat, dass Ersoy rechtlich gesehen ein Mann sei und nur in Männerkleidung auftreten dürfe. Dieses Bühnenverbot wurde 1988 durch ein, auf Initiative des konservativen Ministerpräsidenten Turgut Özal erlassenes Gesetz, das eine Geschlechtsangleichung erlaubte, aufgehoben. Ersoy kehrte auf die Bühne zurück und ihre Alben verkauften sich millionenfach.

Erdoğan, der aus der gleichen konservativen Tradition stammt, verteidigte die LGBTQI+-Rechte, als er an die Macht kam, mit dem Ziel, dem Westen sympathisch zu erscheinen. Darauf angesprochen, betonte er, dass »die Rechte und Freiheiten der Homosexuellen auch gesetzlich geschützt werden müssen«.

Doch in den letzen 20 Jahren hat er sich zu einem homophoben Politiker verwandelt, genauso wie Putin, Bolsonaro und Lukaschenko. 

Im vergangenen Wahlkampf nahm er kein Blatt vor den Mund: »Die Institution der Familie ist in dieser Nation intakt. Es gibt keine LGBT-Menschen in dieser Nation.« In seiner Siegesrede unmittelbar nach dem Wahlsieg »beschuldigte« er die Oppositionsführer*innen »LGBT’isten« zu sein.

Aber Erdoğans Homophobie verblasste im Vergleich zu der seines radikalen Innenministers. Laut Minister Süleyman Soylu wollen die USA, dass »auf der ganzen Welt Männer mit Männern und Frauen mit Frauen heiraten«. Darüber hinaus befürworte die LGBTQI+-Bewegung »die Ehe von Tier und Mensch«. Diese lächerlich scheinende Rhetorik wurde unterstützt von einer massiven Medienkampagne und entwickelte sich zur Gehirnwäsche, die die Angst nähren sollte, dass die Institution Familie abgeschafft wird.

Mit dieser Behauptung wurden Pride-Märsche seit 2015 verboten und Hassrede weiter verbreitet. So sehr, dass im vergangenen Jahr in Istanbul eine Kundgebung mit dem Titel »Das große Familientreffen gegen die LGBT-Propaganda, die unser Land wie ein Virus befällt«, abgehalten wurde. Eine bekannte Sängerin, die auf der Kundgebung sprach, sagte: »Wissen Sie, warum sie nach dem LGBTI ein ›Plus‹ hinzufügen? Denn die Fortsetzung davon wird kommen.«
 

***

Zurzeit ist Netflix, das von der Regierung als »Fahnenträger perverser Ideologien« gesehen wird, das neue Angriffsziel.

Vor zwei Jahren sagte Erdoğan, er sei gegen »unmoralische« soziale Medien wie Twitter, YouTube und Netflix und fügte hinzu: »Es ist zwingend erforderlich, dass sie reguliert werden. Wir wollen, dass diese Plattformen abgeschafft werden.« Netflix konnte nicht abgeschafft werden. Daraufhin beschloss er, sein eigenes »alternatives Netflix« zu gründen. Im vergangenen Monat wurde die nationale digitale Plattform Tabii, die innerhalb des staatlichen Mediensenders TRT eingerichtet wurde, als »die Plattform, die den Bedarf an familienorientierten Inhalten in der Welt decken wird« vorgestellt. Auf dem Youtube-Kanal gibt es vor allem historische Produktionen, »moralische« Familienserien und Kindersendungen.

Die Treppen, die von Studierenden der METU (Middle East Technical University), einer der Eliteuniversitäten des Landes, in Regenbogenfarben gestrichen wurden, überstrich das Rektorat im letzten Monat mit staatlichem Grau.

Und schließlich wurden Straßen und Plätze gesperrt, um diejenigen daran zu hindern, die sich trotz des Verbots zum Pride-Marsch in Istanbul versammeln wollten. Mehr als 100 Menschen, die Widerstand leisteten, wurden festgenommen.

In einer Erklärung sagte der Gouverneur von Istanbul: »Wir werden keine Aktivitäten zulassen, die die Institution der Familie schwächen. Teilen Sie keine ihrer Aufrufe, auch wenn es darum geht, sie zu kritisieren.«
 

***

Kommen wir zu den neuesten Nachrichten:

Die Regierung, die Plätze, Straßen, Bühnen und Bildschirme für die queere Bewegung verboten hat, geht nun noch einen Schritt weiter und bereitet sich darauf vor, die Verbote gesetzlich zu untermauern. 

Ein Entwurf für eine Verfassungsänderung soll festlegen, dass »die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau begründet werden kann«, was gleichgeschlechtlichen Ehen ein verfassungsrechtliches Hindernis auferlegt. In der Zwischenzeit wird das Vereinsgesetz dahingehend geändert, dass die Schließung von LGBTQI+-Vereinen möglich ist.

Erdoğan, der 2002 noch von den Rechten homosexueller Menschen gesprochen hatte, wischte sich nach der Konsolidierung seiner Macht die Maske, die ihn für den Westen sympathisch aussehen ließ, ab und legte die Kriegsbemalung der Junta-Generäle von 1980 an.

Und Bülent Ersoy? Sie ist jetzt Ehrengast an Erdoğans Tafel im Palast. Wie ich schon sagte, die Heuchelei kennt keine Grenzen.

Wie auch immer, im Rahmen des vom Gorki organisierten Festivals GEZİ – TEN YEARS AFTER  haben im vergangenen Monat türkisch-stämmige Queere, weit entfernt von all diesen Verboten, sowohl dem Gezi-Aufstand gedacht als auch die Rechte und Freiheiten der LGBTQI+ verteidigt, die in der Türkei unter Druck stehen.

Wie einige Kurd*innen, Alevit*innen, Linke, Armenier*innen, Griech*innen, Juden*Jüdinnen und Jesid*innen, die als die anderen »traditionellen Feinde« des Regimes gelten, versuchen auch Queere nun, im Exil durchzuatmen und ihre Identität am Leben zu halten.