CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #34

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Kolumne Can Dündar


– Aber die Wirtschaft, die hohen Lebenshaltungskosten, die Inflation, der Währungsverfall, demokratische Rechte…
– Vergiss das alles, Bruder. Hauptsache der Arsch bleibt heil. Der Arsch ist wichtig… Am wichtigsten ist der Arsch…

Zeichnung: Serkan Altuniğne

 

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NICHT NUR KANDIDATEN, AUCH KULTUREN WAREN IM RENNEN

Zwei Wochen vor der schicksalhaften Wahl in der Türkei änderte Präsident Erdoğan sein Profilfoto auf Twitter. Er ersetzte sein ziviles Foto durch ein streng dreinblickendes, das ihn in einer Bomberjacke und mit schwarzer Sonnenbrille zeigt. Viele politische Beobachter interpretierten dies als Botschaft an das Unterbewusstsein der Wähler*innen: »Es ist nicht nur eine Wahl, wir ziehen in den Krieg.«

Und nicht nur das: Erdoğan posierte während der gesamten Wahlkampagne mit Fregatten, Flugzeugträgern und Drohnen. Die Opposition bezeichnete er stets als »Feinde des Staates und der Nation«. Er hörte nie auf, sich einer hasserfüllten Sprache zu bedienen. Sein Hauptziel: die Opposition. In einem Film zum Wahlkampf konnte man Truppen sehen, die an militärischen Operationen teilnehmen, Kampfflugzeuge und Raketen, Soldaten, die gegen Terroristen kämpfen, und ihre Mütter, die auf sie warten. Die Rüstungsindustrie des Landes stand stets im Vordergrund.

Da die Wirtschaft zusammengebrochen ist und die Haushaltsmittel erschöpft waren, beschloss Erdoğan im Wahlkampf als Garant der nationalen Sicherheit aufzutreten.

Sicherheit gegen Freiheit setzen, Angst verbreiten, Bedrohungen von Innen und Außen suggerieren, das ist die klassische Taktik von Autokraten:

Erdoğan hat das schon oft versucht: Im Vorfeld der Wahlen von 2015 führte er eine Operation in Syrien durch. Er ging mit der Haltung eines siegreichen Feldherrn zur Wahl.

Mit einer Operation jenseits der syrischen Grenze konnte er auch das Verfassungsreferendum 2017 für sich entscheiden.

Drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen 2018 startete Erdoğan eine Militäroperation im kurdischen Afrin. Er selbst leitete die Operation von der Kommandozentrale aus, in einer khakifarbenen Uniform und ging aus der Wahl als Präsident hervor.

 

Die Sicherung der »nationalen Einheit«, die durch die Kriege und Krisen in den Nachbarländern als gefährdet propagiert wurde, machte es ihm leicht, die Unterstützung der Bevölkerung zu erhalten. Der Opposition fiel es schwer, die Regierung in solch einer Atmosphäre zu kritisieren.

Doch bei der aktuellen Wahl war die Situation eine andere: Weder Russland noch die USA gewährten Erdoğan mit der Zustimmung für eine Syrien-Offensive einen Wahlbonus. Auch die NATO duldete keine Spannungen mit Griechenland. Auf der anderen Seite waren die Wähler*innen nicht in der Stimmung sich mit dem Erfolg türkischer Drohnen in der Ukraine zu rühmen, da ein großer Teil von ihnen durch eine Inflation von über 100 Prozent mit Hunger zu kämpfen hatte. Erdoğans Bomberjacke und seine Mafiabrille reichten nicht aus, um seine Anhänger zu beruhigen oder seine Gegner zu erschrecken.

Es war diese Ausweglosigkeit, die Erdoğan dazu veranlasste, das zweite Schwert aus der Scheide zu ziehen: das Schwert der Kultur.
 

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Kulturelle Konflikte sind traditionelle Trümpfe der türkischen Politik, die immer stechen. Es ist leicht, Konservative, die etwa zwei Drittel der Wählerschaft ausmachen, wenn sie schon keine Angst vor irgendeinem Feind haben, mit der Botschaft, ihre Identität sei bedroht, zu erschrecken. Die Angst, dass »der Islam bedroht wird«, dass das christliche Abendland unsere Kinder vergiftet«, »Homosexualität sich ausbreitet«, die Institution Familie auseinanderfällt«, »Flüchtlinge unsere Städte übernehmen«, ist mindestens so wirksam wie Militäroperationen in Nachbarländern. Erdoğan wusste das sehr wohl und zog die Nationalismus- und Religionswaffe. Er hielt zwei Tage vor der Wahl eine Kundgebung in einer Moschee ab, während er seinen Rivalen Kemal Kılıçdaroğlu ständig dafür kritisierte, dass er versehentlich auf einen Gebetsteppich getreten war. Er sagte: »Ich weiß nicht, wohin der Gebetsteppich desjenigen ausgerichtet ist, dessen Qibla nicht die Kaaba ist.«

 

Hinter vielen dieser Anspielungen verbarg sich Kılıçdaroğlus alevitische Identität. Aleviten, die eine Minderheit innerhalb der sunnitischen Mehrheit darstellen, wurden in der Geschichte der Türkei nie in wichtige Positionen in der Bürokratie berufen. So war die Nominierung eines Aleviten für das Präsidentenamt so wichtig wie Obamas Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Aus diesem Grund betonte Erdoğan immer wieder die kulturelle Herkunft seines Gegners und provozierte dadurch die Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft.

Der Justizminister beschrieb diese Polarisierung verschärfend als Kampf zwischen Weltlichen und Religiösen, indem er sagte, die Wahlen am 14. Mai würden zwischen »denen, die Champagnerkorken knallen lassen, und denen, die ihren Herrn preisen«, stattfinden.

Der ultranationalistische Devlet Bahçeli, einer der Bündnispartner von Erdoğan, sagte auf einer Wahlkundgebung: »Hans, Sam, Johny, Henry, Frank... Ganz egal, wer ihr seid, ihr könnt Erdoğan nichts anhaben« und untermauerte damit das sogenannte Image Erdoğans als »Schutzwall gegen die Kreuzritter«.

Eines der nützlichsten Propagandamittel der Regierung war das Thema LGBTQI+. Auf fast jeder Kundgebung »beschuldigte« Erdoğan seine Gegner, die LGBTQI+-Community zu unterstützen und »LGBT’ISTEN« zu sein:

»Wir wollen verhindern, dass der Virus der Perversion, der der menschlichen Natur widerspricht, unsere nationale Existenz ansteckt. Wir werden niemals der Zerstörung der Institution Familie unter dem Deckmantel der Freiheit zustimmen.« Erdoğan versprach, der gleichgeschlechtlichen Ehe eine verfassungsrechtliche Schranke aufzuerlegen. Und Fatih Erbakan, einer von Erdoğans Bündnispartnern, versprach darüber hinaus, Ehebruch zu kriminalisieren und bestehende Regelungen zur Gleichstellung der Geschlechter aufzuheben.

Innenminister Süleyman Soylu ging in seiner Homophobie sogar noch weiter: »Ich will nicht, dass in meinem Land Männer Männer und Frauen Frauen heiraten. LGBTQI+ schließt sogar die Ehe von Mensch und Tier ein«, sagte er und sprengte damit die Grenzen der Phantasie.

Die Opposition hingegen versuchte im Wahlkampf beharrlich, die Wirtschaft in den Vordergrund zu stellen und vermied es geschickt, auf den von Erdoğan provozierten Kulturkampf einzugehen. Immer wieder verwies sie auf die um sich greifende Armut, die Arbeitslosigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Leidenschaft für Luxus im Präsidentenpalast.

Besonders die Wahlkampffilme der beiden Kandidaten, die sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, zeigten diesen fundamentalen Unterschied. Während Erdoğan seine Treffen mit Journalist*innen in den grell beleuchteten, geräumigen, luxuriösen Sälen seines prunkvollen Palastes abhielt, drehte Kılıçdaroğlu seine kurzen Videos in der bescheidenen Küche seiner Wohnung. Er gab den Menschen die Botschaft: »Ich bin einer von euch.« Er kündigte an, als gewählter Präsident nicht in Erdoğans Palast einzuziehen, sondern den Präsidentensitz zurück in die weitaus bescheidenere Çankaya-Villa zu verlegen, in der Atatürk die Republik gegründet hatte. Während des gesamten Wahlkampfs benutzte er eine bedachte und inklusive Sprache, im Gegensatz zu Erdoğan, der stets eine wütende und beleidigende Rhetorik pflegte. Kılıçdaroğlu führte einen freundlichen, friedliebenden Wahlkampf. Am Ende jeder Kundgebung ließ er sein Publikum, mit den Händen ein Herz formen.
 

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Wie kann in einem Land, in dem 66 Millionen Menschen unter Armut leiden, die meisten am Rande der Hungergrenze leben, mehr als 50.000 Menschen beim letzten Erdbeben aufgrund der Nachlässigkeit der Regierung starben, die Angst vor einer Partei, die angeblich erlauben will, Tiere zu heiraten, als Wahltrumpf dienen?
Wie kann Erdoğan, der die Istanbul-Konvention aufkündigte, die die Frauen in der Türkei gegen geschlechterspezifische Gewalt schützen sollte, deren Stimmen haben wollen? Und das in einem Land, in dem allein im letzten Jahr 334 Frauen Femiziden zum Opfer fielen.

 

Welche Hingabe steckt in Jugendlichen, ihre erste Stimme dem Autokraten zu geben, der ihnen die Polizei auf den Hals hetzt, nachdem sie einen möglicherweise als kritisch aufgefassten Tweet abgesetzt haben? Warum bevorzugen Wähler*innen den Kandidaten, der sagt: »Ich bin euer Führer«, und nicht den, der sagt: Ich bin einer von euch«. Warum ziehen sie einen prunkvollen Palast, einer einfachen Küche, eine Liebesbotschaft, der Sprache des Hasses vor?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden in der Türkei gerade tiefgehende soziologische Untersuchungen durchgeführt. Viele Theorien, vom »Stockholm-Syndrom« bis zur »Kognitiven Dissonanztheorie«, werden zu Rate gezogen. Der Einfluss von Propaganda, staatstreuen Medien und Fake News auf die Bevölkerung, wird neu bewertet. Es wird untersucht, was es bedeutet, wenn Identitätspolitik eingesetzt wird, um Armut und Klassismus zu vertuschen.

Die Antworten auf diese Fragen können nicht nur Aufschluss über das Beispiel der Türkei geben, sondern auch über die Ursachen des zunehmenden Populismus in der Welt.




Redaktioneller Hinweis: Die Kolumne ist vor der Stichwahl in der Türkei entstanden