Glossar zu Tschewengur


Weiterführende Materialien

 

Filmstill Tschewengur



HUNGER: Die alte Welt
»Alle vier Jahre war eine Missernte, und das Dorf ging zur Hälfte in die Schächte und Städte, zur anderen Hälfte in die Wälder. Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



ERZEUGNISSE: Die Holzpfanne und hölzerne landwirtschaftliche Maschinen 
»Sachar Pawlowitsch arbeitete ununterbrochen, um den Hunger zu vergessen, und lernte, aus Holz all das zu machen, was er früher aus Metall gemacht hatte. Weiterlesen

GEFÄHRTEN 1: Gespräch mit den Fischen
»Freilich hatte Sachar Pawlowitsch einen Mann gekannt, einen Fischer vom Mutjowosee, der hatte viele Leute über den Tod ausgefragt und an seiner Neugier gelitten; dieser Fischer liebte mehr als alles die Fische, nicht als Speise, sondern als besondere Wesen, die wahrscheinlich das Geheimnis des Todes kannten. Weiterlesen

GEFÜGE: Kollektiv mit eigener Wirkungsmächtigkeit
Gefüge sind ad hoc entstehende Gruppierungen unterschiedlicher Elemente, lebhafter Materialien aller Art. Gefüge sind lebendige, pulsierende Bündnisse, die fortbestehen trotz der dauerhaften Anwesenheit von Energie, die sie von innen heraus in Unordnung bringen. Sie weisen unebene Topografien auf, da einige der Punkte, an denen sich die Wege der verschiedenen Affekte und Körper kreuzen, stärker frequentiert werden als andere. Es gibt also keine gleichmäßige Verteilung von Macht entlang der Oberfläche des Gefüges. Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



KLETTENGRAS: Freundschaft lebender Pflanzen 
»Bei den letzten Flechtzäunen Tschewengurs begann das Steppengras, das sich als durchgehendes Dickicht ins Brachland der unbebauten Steppe hinzog: Tschepuryns Füße fühlten sich heimelig in der Wärme der staubigen Kletten, die brüderlich inmitten der übrigen eigenmächtigen Gräser wuchsen. 
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KRIEG: Eine leichtsinnige, vorsätzliche Sache 
»Die Züge fuhren mit einem Mal sehr häufig – Krieg war ausgebrochen. Die Arbeiter im Depot nahmen den Krieg gleichgültig hin, sie wurden ja nicht in den Krieg geschickt und er war ihnen genauso fremd wie die von ihren reparierten und aufgerüsteten Lokomotiven, die dann unbekannte und untätige Leute beförderten. Weiterlesen

SPRACHE: Nichts erzählen, aber alles erklären. 
Gespräch über Tschewengur von Dževad Karahasan und Ingo Schulze (Ausschnitt)
Dževad Karahasan:
In meiner Leseerfahrung gab es nichts Vergleichbares, ich verfügte über keinerlei Mittel und Instrumente, das Gelesene zu analysieren, darüber nachzudenken, es zu deuten. Die Figuren in den gelesenen Erzählungen handeln, doch ihr Handeln scheint durch keine uns bekannten menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Motive veranlasst zu sein. Gewiss, es gibt eine Geschichte, aber ihr Anfang, ihre Mitte und ihr Ende stehen in keinem kausalen Zusammenhang; der Mittelteil geht so wenig als logische Folge aus dem Anfang hervor, wie das Ende vom Anfang oder der Mitte bestimmt wird. Das Gelesene lässt mir keine Ruhe, ich will die Texte immer wieder lesen, ich muss zu ihnen zurückkehren, bin aber nicht imstande, die Gründe dafür zu erraten. Sind die Erzählungen spannend konstruiert? Bringt die Lektüre ein ästhetisches Vergnügen? Erfüllt mich das Lesen mit Freude? Nichts dergleichen - trotzdem will ich sie immer wieder lesen und analysieren. Aber wie nur? Der Mann schreibt seine Texte, als ob er gar nichts erzählen, aber alles erklären will. Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



PLATONOW
1899: Am 16. August wird Andrej Platonowitsch Klimentow (Pseudonym: Platonow) als ältester Sohn von acht Kindern des Einsenbahnschlossers Platon Firsowitsch Klimentow und seiner Frau Maria Wasslijewna Klimentowa in Woronesh geboren
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SCHWERMUT I: Die sich immer wiederholende Not der Menschen 
»In jungen Jahren hatte Sachar Pawlowitsch gedacht, dass er, erst einmal erwachsen, auch klüger werden würde. Aber das Leben war ohne Selbstbesinnung und ohne Halt dahingegangen, als unaufhörliche Begeisterung; kein einziges Mal hatte er die Zeit als gegenläufiges festes Ding empfunden, sie existierte für ihn nur als Rätsel im Mechanismus eines Weckers. Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



SUBBOTNIKS: die freiwillige Beschädigung kleinbürgerlichen Erbes 
»Durch die Straßen Tschewengurs gingen Menschen. Einige von ihnen hatten tagsüber Häuser verrückt, andere auf ihren Händen Gärten fortgeschleppt. Und nun gingen sie ausruhen, plaudern und im Kreise der Kameraden den verbleibenden Tag verbringen. Morgen würden sie keine Arbeit und keine Beschäftigung haben, denn in Tschewengur arbeitete statt aller und für jeden die einzigartige Sonne, die in Tschewengur zum Weltproletarier erklärt worden war. 
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GEFÄHRTEN II: Rosa Luxemburg und die proletarische Kraft
»Grüß dich, Proletarische Kraft!«, sagte Kopjonkin zu dem schnaufenden, von der derben Kost übersättigten Pferd. »Wir reiten zu Rosas Grab!« Weiterlesen

UNENDLICHKEIT: Lokomotiven im All
»Sachar Pawlowitsch lebte, ohne einen Menschen zu brauchen: Er konnte stundenlang vor der Tür einer Feuerbüchse sitzen, in der das Feuer brannte. Das ersetzte ihm das große Vergnügen einer Freundschaft und eines Gesprächs mit Menschen. Weiterlesen 

FLUSS
»Die Nebel starben wie Träume unter dem scharfen Blick der Sonne. Weiterlesen

MASCHINEN: Und der Mensch?
»Herr Altmeister!«, wandte sich eines Tages Sachar Pawlowitsch an ihn, mutig geworden aus Liebe zur Sache. »Erlauben Sie eine Frage: Warum ist der Mensch so, weder gut noch schlecht, aber die Maschinen sind gleichbleibend großartig …?« Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



REVOLUTION: Sterben im Alltag der Revolution 
»Ein Lokführer aus dem Depot, der Revkomvorsitzende, sagte zu Dwanow :
»Die Revolution ist ein Risiko: wenn’s schiefgeht, reißen wir das Erdreich heraus und lassen den Lehm übrig, sollen sich sonst welche Hundesöhne davon ernähren, wenn’s dem Arbeiter nicht geglückt ist!« Weiterlesen

SCHWERMUT II: Ereignislose Minuten auf einem Bahnhof
»Auf dem Bahnhof fühlte Dwanow die Unruhe des verwucherten, vergessenen Raums. Wie jeden Menschen zog auch ihn die Ferne der Erde an, als ob alle fernen und unsichtbaren Dinge sich nach ihm sehnten und ihn riefen. Weiterlesen

 

Filmstill Tschewengur



ELEKTRIFIZIERUNG: Reicht die Energie, wenn alle Subjekte werden?
»Im Saal wurde der Versammlungsbeginn eingeläutet. »Gehen wir und reden ein bisschen mit«, sagte Gopner zu Dwanow. »Wir beide sind ja jetzt keine Objekte mehr, sondern Subjekte, verdammt noch mal, ich sag’s und kann die eigne Ehre nicht begreifen.«
Auf der Tagesordnung stand ein einziger Punkt – die neue ökonomische Politik. Gopner dachte sofort über sie nach, er mochte Politik und Ökonomie nicht, er glaubte, die Rechnerei sei bloß was für die Maschine, im Leben aber gebe es nur Unterschiedlichkeit und Einzahl. Weiterlesen

SCHWERMUT III: Die Leere vor dem Kommunismus
Wenn nicht einmal die Sexualität einen Ausweg aus der Lebensarbeit aufzeigt, wo lässt sich dann überhaupt eine Pause oder Unterbrechung im Kontinuum von Arbeit und Produktion finden? Platonows Lösung heißt тоска, ein russisches Wort, das er verwendet, um die Erfahrung zu beschreiben, die sich einstellt, wenn ‚der Arbeitsprozess eine Leerstelle bildet, eine Pause. Weiterlesen

GEFÄHRTEN III: Letztes Gespräch mit den Fischen
»Dwanow tat es nicht leid um seine Heimat und er verließ sie. Ein sanftes Feld zog sich als menschenleerer Acker hin, unten von der Erde roch es nach der Traurigkeit altersschwacher Gräser, und dort begann der ausweglose Himmel, der die Welt zu einem leeren Ort machte. 
Das Wasser im Mutjowosee war leicht bewegt, beunruhigt vom mittäglichen Wind, der sich in der Ferne schon gelegt hatte. Dwanow ritt dicht ans Wasser heran. Weiterlesen



Romanauszüge aus: Andrej Platonow, Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen. Aus dem Russischen von Renate Reschke. Nachwort von Ingo Schulze und Dževad Karahasan. © 2016 by Anton Martynenko, represented by FTM Agency Ltd. Russia, 2016. © Suhrkamp Verlag Berlin 2018.

Filmstills Chris Kondek, aufgenommen auf dem Gelände San Gimignano Lichtenberg in Berlin.
Redaktion Ludwig Haugk & Clara Probst