UNENDLICHKEIT: Lokomotiven im All


»Sachar Pawlowitsch lebte, ohne einen Menschen zu brauchen: Er konnte stundenlang vor der Tür einer Feuerbüchse sitzen, in der das Feuer brannte. Das ersetzte ihm das große Vergnügen einer Freundschaft und eines Gesprächs mit Menschen.
Wenn er die lebendige Flamme beobachtete, lebte er selber – in ihm dachte der Kopf, fühlte das Herz, und sein ganzer Körper gab sich still zufrieden. Sachar Pawlowitsch achtete die Kohle, den Formstahl, jegliches schlummernde Rohmaterial und Halbfabrikat, aber wirklich lieben und fühlen konnte er nur ein fertiges Erzeugnis – das, was durch die Arbeit des Menschen umgestaltet worden war und was künftig selbständig weiterleben würde. In den Mittagspausen wandte er kein Auge von der Lokomotive und durchlitt schweigend seine Liebe zu ihr. In seine Behausung schleppte er Bolzen, alte Ventile, Hähne und andere mechanische Erzeugnisse. Er ordnete sie in einer Reihe auf dem Tisch und versenkte sich in ihre Betrachtung, wobei er sich niemals vor Einsamkeit langweilte. Einsam war er auch gar nicht – die Maschinen waren für ihn Menschen und weckten in ihm beständig Gefühle, Gedanken und Wünsche. Der vordere Radsatz der Lokomotive veranlasste ihn, sich um die Unendlichkeit des Raumes zu sorgen. Er ging nachts extra hinaus, um nach den Sternen zu sehen – war die Welt weiträumig genug, reichte der Platz, dass die Räder ewig leben und sich drehen konnten? Die Sterne leuchteten hingebungsvoll, aber jeder in Einsamkeit. Sachar Pawlowitsch überlegte, womit der Himmel zu vergleichen sei. Und er erinnerte sich an einen Eisenbahnknotenpunkt, wohin er geschickt worden war, um Radreifen zu holen. Vom Bahnsteig war ein Meer einsamer Signale zu sehen – Weichensignale, Armsignale, Warnlichter und leuchtende Scheinwerfer fahrender Lokomotiven. Genauso sah der Himmel aus, nur war er weiter weg und irgendwie besser eingerichtet im Sinne ruhiger Arbeit. Dann begann Sachar Pawlowitsch nach Augenmaß die Entfernung bis zu einem blau schimmernden Stern auszurechnen: er breitete die Arme als Maßstab aus und legte diesen Maßstab im Geiste an den Raum an. Der Stern leuchtete in zweihundert Werst Entfernung. Das beunruhigte ihn, obwohl er gelesen hatte, dass die Welt unendlich sei. Er wünschte, die Welt sei wirklich unendlich, damit immer Räder gebraucht und pausenlos hergestellt wurden zur allgemeinen Freude, aber er bekam überhaupt kein Gefühl für die Unendlichkeit.
»Wie viel Werst es sind, weiß keiner, weil es weit ist !« sagte er. »Aber irgendwo ist eine Sackgasse, endet der letzte Werschok. Wenn es wirklich Unendlichkeit gäbe, wäre sie von selbst in der großen Weite aufgegangen, und es gäbe keine Festigkeit. Was heißt Unendlichkeit? Es muss eine Sackgasse geben!«
Der Gedanke, dass die Räder zu guter Letzt nicht genug Arbeit haben könnten, erregte Sachar Pawlowitsch zwei Tage und Nächte, aber dann kam er auf die Idee, die Welt auszudehnen, sobald sämtliche Wege die Sackgasse erreicht hatten, denn man kann doch auch den Raum erhitzen und in die Länge ziehen wie Bandstahl, und damit beruhigte er sich.“

Andrej Platonow: Tschewengur. Suhrkamp Verlag, 2018.