GEFÜGE: Kollektiv mit eigener Wirkungsmächtigkeit


Gefüge sind ad hoc entstehende Gruppierungen unterschiedlicher Elemente, lebhafter Materialien aller Art. Gefüge sind lebendige, pulsierende Bündnisse, die fortbestehen trotz der dauerhaften Anwesenheit von Energie, die sie von innen heraus in Unordnung bringen. Sie weisen unebene Topografien auf, da einige der Punkte, an denen sich die Wege der verschiedenen Affekte und Körper kreuzen, stärker frequentiert werden als andere. Es gibt also keine gleichmäßige Verteilung von Macht entlang der Oberfläche des Gefüges. 
Gefüge werden nicht von irgendeinem zentralen Oberhaupt gelenkt: Keine einzelne Materialität und kein einzelner Materialtyp verfügt über hinreichende Kompetenz, um durchgehend den Entwicklungsverlauf und die Auswirkung der Gruppe bestimmen zu können. Bei den durch ein Gefüge herbeigeführten Wirkungen handelt es sich vielmehr um emergente Eigenschaften – emergent in dem Sinn, dass ihre Fähigkeit, etwas herbeizuführen […], etwas anderes ist als die Summe der Lebenskraft jeder einzelnen Materialität. Jeder Bestandteil und jeder Proto-Bestandteil des Gefüges hat eine bestimmte Lebenskraft, doch die Gruppierung als solche weißt auch eine eigene Wirkungsmächtigkeit auf: Das Handlungsvermögen des Gefüges. Gerade weil jeder Bestandteil/Aktant sich einen energetischen Puls bewahrt, der ein wenig von dem des Gefüges »abweicht«, ist das Gefüge niemals ein schwerfälliger Block, sondern ein Kollektiv, dessen weitere Entwicklung offen ist, eine »nicht zu totalisierende Summe.« So zeichnet sich jedes Gefüge nicht nur durch eine eigene Entstehungsgeschichte aus, sondern auch durch eine begrenzte Lebensspanne.

Jane Bennett: Lebhafte Materie, Eine politische Ökologie der Dinge. Matthes & Seitz Berlin, 2021